Benjamin Balint

Kafkas letzter Prozess


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das Deutsche Literaturarchiv in Marbach unter Ulrich Raulffs Leitung, wolle die Papiere Kafkas und Brods in ihre weltweit angesehene Sammlung literarischer Nachlässe berühmter Schriftsteller einreihen. Wie Plinner mir später erzählte, hatte er von Raulff klare Vorgaben, was er sagen durfte und was nicht, und konnte daher nur mit Einschränkungen für Eva Hoffes Recht auf einen Verkauf des Nachlasses nach Deutschland plädieren. Das Deutsche Literaturarchiv hatte stets durchblicken lassen, dass Kafka in Deutschland universell rezipiert werde (mit einem objektiven »Blick von nirgendwo«, sofern es einen solchen überhaupt geben könnte), wohingegen in Israel Kafka bisweilen auf sein Jüdischsein reduziert werde und die Rezeption daher enger und spezifischer ausfalle.

      Im Bewusstsein, sich in früheren Stadien des Prozesses hier und da taktlos verhalten zu haben, wollte sich die Marbacher Leitung im entscheidenden Moment nun lieber zurückhalten und nicht zu offensiv auftreten. Daher erwähnte Plinner wie beauftragt lediglich, dass frühere Versuche, Max Brods Nachlass zu inventarisieren, wegen der Fülle des Materials unvollständig geblieben seien. »Im Moment bezweifle ich, dass jemand weiß, was eigentlich alles da ist«, sagte er.

      Nach einer knappen Stunde schloss Richter Rubinstein die Verhandlung und zog sich mit seinen beiden Kollegen ins Richterzimmer zurück. Eva und ihre Freundinnen wanderten sorgenvoll in der Eingangshalle auf und ab. »Wann wohl das Urteil kommt?«, fragte eine. Ein Anwaltsgehilfe Eli Sohars antwortete mit Worten des mittelalterlichen jüdischen Bibelexegeten Raschi, einem Kommentar des Bibelverses »Und wenn dich morgen dein Sohn fragen wird …« (2. Mose, 13:14): »Es gibt ein Morgen, das gleich ist, und ein Morgen, das erst später ist.«10

      Eva Hoffe, die nur selten ein Blatt vor den Mund nahm, beklagte sich, dass Eli Sohar offenbar an einer Sommergrippe leide. »Er war nicht gerade in Bestform«, sagte sie. Doch sie gab sich taff. Bevor sie sich auf den Weg zur Fußgängerbrücke machte, die den Gebäudekomplex des Obersten Gerichts mit dem protzigen Einkaufszentrum auf der anderen Straßenseite verband, sagte sie noch: »Ich verliere trotzdem nicht die Hoffnung. Ich heiße nicht umsonst Hoffe.«

      Als ich ihr so hinterhersah, fiel mir Kafkas Umdeutung des alten lateinischen Mottos dum spiro spero ein, »Solange ich atme, hoffe ich«. In seiner Kafka-Biografie erzählt Max Brod von einem Gespräch, in dem Kafka die Meinung äußerte, die Menschen seien womöglich nur »nihilistische Gedanken, die in Gottes Kopf aufsteigen«. Ob es dann überhaupt Hoffnung gebe?, fragte Brod. »Viel Hoffnung – für Gott«, erwiderte Kafka, »unendlich viel Hoffnung –, nur nicht für uns.« Und als Eva Hoffes kleine Gestalt verschwand, überlegte ich, dass Kafka mit seiner »Passion der Selbstverkleinerung«, wie Elias Canetti es formulierte, die Besitzansprüche, die in diesem Prozess ans Licht kamen, bestimmt ein Graus gewesen wären. Sicher würde er uns in Erinnerung rufen, dass man sich berauschen kann an dem, was man besitzt, noch mehr aber an dem, was man nicht besitzt.11

      2

       »Fanatische Verehrung«: Der Erste, der Kafkas Faszination erlag

      Karls-Universität Prag, 23. Oktober 1902

      Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.

      FRANZ KAFKA, 19041

      Hat man den Glauben nicht, dann zieht ja vielleicht alles kahl und kalt vorbei.

      MAX BROD, 19202

      Der achtzehnjährige Max Brod, Erstsemester an der juristischen Fakultät der Karls-Universität in Prag, hielt in der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in der Ferdinandstraße einen Vortrag über den Philosophen Arthur Schopenhauer, mit dem er seine Kommilitonen zu beeindrucken hoffte. Auf der Anrichte neben den schweren Vorhängen warteten neben den Tageszeitungen aus ganz Europa bereits Platten mit Butterbroten. Zwei Jahre lang hatte sich Brod intensiv mit Schopenhauers Werken auseinandergesetzt. Ganze Passagen konnte er auswendig. »War ich mit dem sechsten Band der Grisebachschen Schopenhauer-Edition in den hübschen, dunkelbraun gebundenen Reclam-Bändchen fertig«, schrieb er in seiner Autobiografie, »so begann ich gleich wieder mit dem ersten.«3

      Hinter dem Pult wirkte Brods Kopf auf dem gedrungenen Oberkörper unverhältnismäßig groß. Man sah ihm nicht mehr an, dass ihn eine Rückgratverkrümmung (Kyphose), die im Alter von vier Jahren diagnostiziert worden war, jahrelang gezwungen hatte, Eisenkorsett und Halsstütze zu tragen.

      Max Brod war 1884 als ältestes von drei Kindern in einer bürgerlichen jüdischen Familie zur Welt gekommen, deren Vorfahren seit dem 17. Jahrhundert in Prag lebten. Als Kleinkind erkrankte er an Masern und Scharlach und starb fast an Diphtherie. Max’ Vater Adolf, stellvertretender Direktor der Böhmischen Unionbank, war ein bedachter, umgänglicher und weltgewandter Mann, seine Mutter Fanny (geborene Rosenfeld) glich dagegen eher einem Vulkan aus unbändigen Gefühlen. In seiner weitschweifigen Autobiografie Streitbares Leben schreibt Brod: »Zwei ganz verschieden geartete Familien waren in meinen Eltern zusammengetroffen; man könnte sagen: feindlich geartete Familien.«4

      Brods Geselligkeit stand nur scheinbar im Widerspruch zu seiner kleinen Statur, und wer sich mit ihm unterhielt, achtete bald nicht mehr auf seine Körperproportionen. Stefan Zweig schreibt über seinen Freund Max Brod als Student: »Noch sehe ich ihn, wie ich ihn das erste Mal sah, einen Zwanzigjährigen, klein, schmächtig und von unendlicher Bescheidenheit. […] So war er damals, dieser junge Dichter, vollkommen hingegeben an alles, was ihm groß schien, an das Fremde, Erhabene und Wunderbare in jeder Form und Gestalt«.5

      Nach dem Vortrag löste sich das Publikum langsam auf, und ein schlaksiger, adrett gekleideter Student näherte sich mit ausgreifenden Schritten dem Rednerpult. Er war ein Jahr älter als Brod, 1,82 Meter groß, leicht abstehende Ohren, die Krawatte akkurat gebunden. Brod hatte ihn noch nie gesehen. Er stellte sich als Franz Kafka vor und erbot sich, Brod nach Hause zu begleiten. »[S]ogar seine eleganten, meist dunkelblauen Anzüge waren unauffällig und zurückhaltend wie er«, schrieb Brod später in seiner Kafka-Biografie. »Damals aber scheint ihn etwas an mir angezogen zu haben, er war aufgeschlossener als sonst, allerdings fing das endlose Heim-Begleitgespräch mit starkem Widerspruch gegen meine allzu groben Formulierungen an.«6 Als sie vor dem Haus in der Schallengasse 1 ankamen, in der Brod mit seinen Eltern lebte, war die Unterhaltung noch immer in vollem Gange. So gingen sie weiter zur Zeltnergasse, wo Kafka mit Eltern und Schwestern wohnte, und dann wieder zurück; Brod hatte Mühe, mit Kafka Schritt zu halten. Unterwegs sprachen die beiden Studenten über Nietzsches Angriffe gegen Schopenhauer, Schopenhauers Ideal der Selbstentsagung und seine Definition des Genies. Genialität, so der Philosoph, sei »die Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhalten […] d. h. sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke, ganz aus den Augen zu lassen, sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge, übrig zu bleiben«. (Brod fielen Kafkas Augen auf, »kühn, blitzendgrau«.) Da Kafka jedoch für abstraktes Philosophieren weder geeignet noch empfänglich war, nahm die Unterhaltung bald eine literarische Wendung. Mit entwaffnender Geradlinigkeit brachte Kafka die Rede auf den österreichischen Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal, der zehn Jahre älter war als die beiden. (Eines der ersten Geschenke Kafkas an Brod war eine Sonderausgabe von Hofmannsthals Das Kleine Welttheater (1897) mit goldgeprägtem Pergamenteinband.)7

      Die beiden trafen sich einmal, manchmal zweimal am Tag. Brod gefiel Kafkas sanfter Gleichmut. Eine »süße Sicherheit«, »etwas ganz ungewöhnlich Starkes« sei von ihm ausgegangen, so Brod, auf den Kafka gleichermaßen klug und kindlich wirkte. In seiner Autobiografie sprach Brod später von einem »Zusammenprall der beiden Seelen«, als sie gemeinsam Platos Protagoras auf Griechisch und Flauberts Erziehung des Herzens (1869) und Die Versuchung des Heiligen Antonius (1874) auf Französisch lasen. (Kafka schenkte Brod unter anderem ein Buch von René Dumesnil über Flaubert.) »Das Schöne und Einzigartige der gegenseitigen Beziehung lag darin«, schrieb Brod, »daß wir einander ergänzten und einander […] viel zu geben hatten«. Die Unterstützung reichte bis in die mündlichen Jura-Prüfungen. »Nur die Zettelchen haben mich gerettet«, dankte Kafka anschließend seinem Freund.8

      Die