Bald schon begann Brod, seine Freundschaft mit Kafka literarisch zu verarbeiten. Die Hauptfigur seines Romans Arnold Beer aus dem Jahr 1912 ist ein Dilettant, der seine Freunde in demselben Ton zum Schreiben drängt, den Brod auch Kafka gegenüber anschlug. »Arnold verlangte einfach, daß rings um ihn geleistet wurde; als hätte er selbst das dunkle Gefühl, daß er für seine Person mit seiner Zersplitterung nichts Nennenswertes hinterlassen würde, suchte er seine Spannkraft wenigstens durch das Medium anderer Gehirne hindurch wirken zu lassen.« Nach der Lektüre des Romans schrieb Kafka an Brod: »Ich habe eine solche Freude von Deinem Buch gehabt« und verabschiedete sich mit den Worten: »Ich küsse dich.«34
In seinem bekanntesten Roman Tycho Brahes Weg zu Gott (erschienen 1915 bei Kurt Wolff und jahrelang ein Bestseller) beleuchtet Brod das Verhältnis zwischen dem großen dänischen Astronomen Tycho Brahe und dem ihm intellektuell überlegenen deutschen Astronomen Johannes Kepler. Kepler, der die Gesetze der Planetenbewegungen erforscht, weigert sich, irgendwelche Erkenntnisse öffentlich zu machen, solange sie nicht perfekt sind. Der fiktive Tycho beschreibt Kepler als rätselhaften Menschen, der beharrlich »makellose Reinheit« anstrebt. Der wendigere Brahe, der im Prager Exil lebt, kann mit Keplers Selbstzweifeln und seiner Abneigung gegen das Publizieren ebenso wenig anfangen wie mit dessen Beteuerung: »Nein, ich bin nicht glücklich und bin nie glücklich gewesen […]. Und ich will auch gar nicht glücklich sein.« Keplers Entdeckungen machen Brahes Erkenntnisse überflüssig. Trotzdem überwindet Brahe selbstlos seine Eitelkeit und stellt seine Arbeit hintan. Brod widmete das Buch Kafka, der ihm im Vorwege dazu schrieb: »Weißt Du was eine solche Widmung bedeutet? Daß ich […] hinaufgezogen und dem ›Tycho‹, der um so viel lebendiger ist als ich, beigefügt werde. Wie klein werde ich diese Geschichte umlaufen! Aber wie werde ich sie als mein scheinbares Eigentum lieb haben! Du tust mir unverdient Gutes, Max, wie immer.«35
Da Brod wusste, dass Kafka des Selbstlobs völlig unfähig war, nutzte er seine guten Beziehungen und wurde zum Fürsprecher, Vertreter und Literaturagenten seines Freundes. »[Ich] wollte ihm beweisen, daß seine literarischen Unfruchtbarkeits-Befürchtungen keinen Grund hätten«, schrieb Brod in seiner Kafka-Biografie.36 So erwähnte er Kafka wohlwollend in der Berliner Wochenzeitung Die Gegenwart, ehe diese auch nur eine einzige Zeile von ihm veröffentlicht hatte.
Kafkas Minderwertigkeitskomplexe machten Brod schwer zu schaffen. »Ich kann nicht schreiben«, gestand Kafka seinem Freund 1910, »ich habe keine Zeile gemacht, die ich anerkenne, dagegen habe ich alles weggestrichen, was ich nach Paris – und das war nicht viel – geschrieben habe. Mein ganzer Körper warnt mich vor jedem Wort; jedes Wort, ehe es sich von mir niederschreiben läßt, schaut sich zuerst nach allen Seiten um; die Sätze zerbrechen mir förmlich, ich sehe ihr Inneres und muß dann rasch aufhören.«37
In einem Brief an Oskar Baum sprach Kafka von der »Angst, die Götter auf mich aufmerksam zu machen«. Unverdrossen und völlig frei von Neid legte Brod bei Lektoren und Verlegern ein Wort für Kafka ein. Er vermittelte zwischen Kafka und der von Franz Blei herausgegebenen Zeitschrift Hyperion, in der Kafkas erster Text erschien. Im Jahr 1916 schrieb Brod an Martin Buber: »Ach kennten Sie doch seine umfangreichen, leider unvollendeten Romane, die er mir manchmal, in seltenen Stunden vorliest. Was würde ich nicht tun, um ihn mobiler zu machen!«38
Im Sommer 1912 fuhr Brod mit Kafka nach Leipzig, damals ein Zentrum der deutschen Verlagslandschaft, und stellte ihn dem jungen Verleger Kurt Wolff vor. »[Ich] habe im ersten Augenblick den nie auslöschbaren Eindruck gehabt: der Impresario präsentiert den von ihm entdeckten Star.« Ende desselben Jahres kümmerten sich Brod und Wolff um die Veröffentlichung von Kafkas erstem Buch im Rowohlt Verlag mit einer Auflage von achthundert Exemplaren. Das 93 Seiten starke Bändchen mit dem Titel Betrachtung versammelte achtzehn Prosaminiaturen. In einer Anzeige hieß es, Kafkas »Eigenart, die ihn dichterische Arbeiten immer und immer durchzufeilen zwingt, hielt ihn bisher von der Herausgabe von Büchern ab«.39 Kafka widmete das Buch Brod, der sich mit einer überschwänglichen Rezension in der Münchner Zeitschrift März revanchierte:
Ich könnte mir sehr gut einen denken, dem dieses Buch in die Hand fällt […] und der von Stund an sein ganzes Leben ändert, ein neuer Mensch wird. Eine solche Unbedingtheit und süße Kraft dringt aus diesen wenigen kurzen Prosastücken. […] Es ist die Liebe zum Göttlichen, zum Absoluten, die aus jeder Zeile spricht. Und mit einer solchen Selbstverständlichkeit, daß an diese grundlegende Moral gar kein Wort mehr verschwendet wird […].40
Kafka war beschämt. »Heute mittag hätte ich ein Loch gebraucht, um mich darin zu verstecken«, schrieb er seiner Verlobten Felice Bauer und fuhr fort:
Weil eben die Freundschaft die er für mich fühlt im Menschlichsten, noch weit unter dem Beginn der Litteratur, ihre Wurzel hat und daher schon mächtig ist, ehe die Litteratur nur zu Athem kommt, überschätzt er mich in einer solchen Weise, die mich beschämt und eitel und hochmütig macht […]. Wenn ich selbst arbeiten würde, im Fluß der Arbeit wäre und von ihr getragen, ich müßte mir über die Besprechung keine Gedanken machen, ich könnte Max in Gedanken für seine Liebe küssen und die Besprechung selbst würde mich gar nicht berühren. So aber –41
»Die Verwandlung«, die Kafka zum Durchbruch verhalf, veröffentlichte Brod 1913 in seiner Anthologie Arkadia.42 (Kafka hatte nach eigener Aussage in der »Felice B.« gewidmeten Erzählung Motive aus Brods Roman Arnold Beer aus dem Jahr 1912 verarbeitet.) Und 1921 lobte Brod seinen Freund in seinem langen Aufsatz »Der Dichter Franz Kafka«, der in Die neue Rundschau erschien, in den Himmel.43
Alle Kafka-Texte, die Brod veröffentlichte, habe er seinem Freund mit gutem Zureden, List und Tücke abtrotzen müssen, so Brod später.
Manchmal war ich wie eine Zuchtrute über ihm, trieb und drängte, natürlich nicht direkt, sondern immer wieder durch neue Mittel und auf Schleichwegen […]. Es gab Zeiten, in denen er mir dafür dankte. Oft aber war ich ihm mit meinem Anfeuern auch lästig, er wünschte es zum Teufel, sein Tagebuch gibt Kunde davon. Ich spürte das auch, es lag mir aber nichts daran. Mir ging es um die Sache, um einen Hilfsdienst, allenfalls auch gegen den Willen des Freundes.44
3
Der erste Prozess
Tel Aviv, Familiengericht, Ben-Gurion-Boulevard 38, Ramat Gan, September 2007
Was tätig zerstört werden soll, muß vorher ganz fest gehalten worden sein […].
FRANZ KAFKA, »Zürauer Aphorismen«1
Nachdem Eva Hoffe und ihre Schwester im September 2007 mit dem Testament ihrer Mutter einen Erbschein beantragt hatten, wurden sie unsanft aus ihrer Trauer gerissen.
Nach Ester Hoffes Tod suchte Evas Schwester Ruth die nötigen Unterlagen zusammen und brachte sie persönlich zum Nachlassgericht in der Ha’Arbaa-Straße in Tel Aviv. Eva Hoffe bezweifelte, dass die Sache reibungslos über die Bühne gehen würde, denn das Testament ihrer Mutter gleiche einem »Buschfeuer in einer Dornenhecke«. Doch sie fügte sich ihrer älteren Schwester.
Nach dem israelischen Erbschaftsgesetz von 1965 kann ein Testament nur vollstreckt werden, wenn das israelische Nachlassgericht dessen Gültigkeit bestätigt. Für den entsprechenden Antrag muss eine vom Antragsteller unterzeichnete, notariell beglaubigte eidesstattliche Erklärung eingereicht werden, außerdem die Sterbeurkunde, das Originaltestament und Angaben zu anderen Erben oder Nutznießern. (Israel erhebt keine Erbschaftsteuer.) Damit Widerspruch gegen das Testament möglich ist, wird der Antrag veröffentlicht, meist in Form einer Zeitungsanzeige. Das Amt reicht den Antrag in Kopie an das Justizministerium weiter, das nach eigenem Ermessen einschreiten kann, sofern ein öffentliches Interesse vorliegt. Die offizielle Bestätigung des Testaments ist rechtlich bindend wie ein Gerichtsurteil.
»Mein [Kanzlei-]Partner ging eines Tages zufällig durch die Bibliothek, als ihm ein älterer Herr einen Stoß Unterlagen in die Hand drückte«, sagte Meir Heller, der Anwalt der Nationalbibliothek, gegenüber der Sunday