Benjamin Balint

Kafkas letzter Prozess


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Nach seinem Tod sollten sie an ein öffentliches Archiv gehen. Im Internet sah ich, dass die Gerichtsanhörung über die Bestätigung von Ester Hoffes Testament zwei Tage später stattfinden sollte.« Weniger als 48 Stunden darauf hatte Heller seinen dramatischen Auftritt. »Ich stürmte in das Gericht und rief: ›Halt! Es gibt noch ein anderes Testament – das Testament von Max Brod!‹«

      Das Familiengericht belegt mehrere Stockwerke eines grauen Bürogebäudes an der Hauptstraße der Stadt Ramat Gan in der Nähe von Tel Aviv. Der zurückgesetzte Eingang ist von rot gefliesten Säulen gerahmt. Rechts daneben saßen vor einem Kiosk Anwälte und ihre Klienten auf orangefarbenen Plastikstühlen bei Sandwich, Falafel oder Schakschuka. Eva Hoffe und ihre Schwester Ruth kamen an jenem Morgen im September 2007 allein; Ruth war davon ausgegangen, dass es keinen Anlass zur Sorge gebe und kein Anwalt nötig sei. Als Heller auftauchte, war das ein Schock für die beiden, plötzlich standen sie der eisernen Maschinerie des staatlichen Rechtsapparates gegenüber. »Das war ein Hinterhalt«, sagte Eva Hoffe. »Man hatte uns getäuscht.«

      Hellers Intervention führte dazu, dass der Staat Israel – vor dem Familiengericht vertreten durch den staatlichen Treuhänder (apotropos), die Nationalbibliothek und den gerichtlich bestellten Verwalter für Brods Nachlass – die Bestätigung des Testaments verweigerte und Ester Hoffes Testament anfocht. In den folgenden fünf Jahren, bis zum Urteil im Oktober 2012, wurde der Fall in einem engen Raum des Familiengerichts von Richterin Talia Kopelman Pardo verhandelt, die auf Erbrecht spezialisiert war.

      Heller argumentierte, Brod habe Ester Hoffe die Kafka-Papiere nicht als Nutznießerin überlassen, sondern als Nachlassverwalterin. Da ihr die Manuskripte nie gehört hätten, könne sie sie auch nicht an ihre Töchter Eva und Ruth vererben. Ester Hoffe habe Brods Letzten Willen missachtet, behauptete Heller, genauso, wie Brod Kafkas Letzten Willen missachtet habe.

      Nach Ester Hoffes Tod seien Kafkas Manuskripte wieder dem Brod-Nachlass zuzuordnen, der laut seinem Testament aus dem Jahr 1961 nun der Israelischen Nationalbibliothek nicht verkauft, sondern vermacht werden müsse, ohne dass den Hoffes dafür eine finanzielle Entschädigung zustehe. Brod habe in seinem Testament verfügt, dass Ester Hoffe seinen literarischen Nachlass nach ihrem Ermessen »der Bibliothek der Hebräischen Universität Jerusalem [mittlerweile die Israelische Nationalbibliothek] oder der Städtischen Bibliothek Tel Aviv oder einem anderen öffentlichen Archiv im Inland oder Ausland zur Aufbewahrung« übergeben solle.2 Die Nationalbibliothek brannte darauf, die Kafka-Sammlung in den großen Bestand der dort bereits befindlichen Papiere deutsch-jüdischer Schriftsteller einzureihen, unter ihnen auch Dichter aus dem Prager Kreis.

      Meir Heller präsentierte Richterin Kopelman Pardo die Aussage seiner wichtigsten Zeugin Margot Cohn. Cohn, 1922 im Elsass geboren, wurde mit der Tapferkeitsmedaille der französischen Fremdenlegion ausgezeichnet, weil sie im Holocaust über ein geheimes Netzwerk unter Leitung von Georges Garel jüdische Kinder gerettet hatte. Sie emigrierte 1952 nach Israel, war von 1958 bis zu dessem Tod 1965 Sekretärin des Philosophen Martin Buber und arbeitete anschließend als Archivarin seines Nachlasses in der Nationalbibliothek in Jerusalem.

      Cohn zufolge hatte Brod 1968 wenige Monate vor seinem Tod gemeinsam mit Ester Hoffe die Nationalbibliothek besucht. »Brod hatte zuvörderst die Absicht, das Archiv in der Jerusalemer Bibliothek unterzubringen, wo sich auch die Archive seiner besten Freunde befinden«, erklärte sie. »Aus meinem Gespräch mit Brod ging für mich eindeutig hervor, dass er schon beschlossen hatte, sein Archiv der Bibliothek zu übergeben. […] Bei seinem Besuch in der Abteilung sollten die fachlichen Details für die korrekte Übergabe des Archivs geklärt werden.« Später ergänzte Cohn im Gespräch mit dem israelischen Journalisten Zwi Harel: »Während seines Besuchs bei uns [in der Nationalbibliothek] wich Frau Hoffe keine Sekunde von seiner Seite. Ich versuchte Brod zu erklären, wie ich Bubers Archiv verwalte. Sie ließ Brod nicht zu Wort kommen.« Auf Harels Frage, warum Brod in seinem Testament verfügt habe, sein literarischer Nachlass solle an Ester Hoffe gehen, äußerte Cohn die Vermutung, es könne daran gelegen haben, dass Brod »Frauen gegenüber sehr schwach war. Das war seine Schwäche.«

      Nach Brods Tod hatte die Nationalbibliothek Verhandlungen mit Ester Hoffe aufgenommen. Im Gegenzug für die Übergabe des Brod-Nachlasses und der Kafka-Manuskripte wollte sie sich verpflichten, die Brod-Forschung finanziell zu unterstützen, 1984 eine Ausstellung zu Brods 100. Geburtstag zu zeigen und ein internationales Symposium zu seinem Werk auszurichten. Doch Hoffe blieb unkooperativ.

      In einem letzten Versuch schickte die Nationalbibliothek 1982 den Leiter der Manuskript- und Archivabteilung Mordechai Nadav und seine Assistentin Margot Cohn erneut zu Ester Hoffe. Sie besuchten sie in ihrer Erdgeschosswohnung in einem kastigen rosa Wohnblock in der Spinoza-Straße 20. »Wir betonten, wie wichtig es sei, Brods und Kafkas Manuskripte der Bibliothek zu überlassen«, erzählte Cohn. »Wir versprachen, sie würden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, damit das intellektuelle Wirken Brods und seiner Prager Freunde eine Fortsetzung finden konnte.«

      Cohn beschrieb vor Gericht die Unordnung in der Wohnung, die Ester Hoffe mit Eva teilte. »Mit Erstaunen sah ich, dass sich in der Wohnung Papiere und Aktenordner stapelten«, erzählte sie von dem Besuch 1982. »Auf fast jedem Stoß saß eine der vielen Katzen, die durch die Wohnung streiften. Man konnte sich nirgends hinsetzen, und wir bekamen kaum Luft. Ich hatte den Eindruck, dass Frau Hoffe nicht daran interessiert war, das Archiv der Bibliothek zu übergeben, und am Ende gab sie die Schriften auch nicht her […] und ließ Brods Wunsch unerfüllt.«

      Hier widersprach Eva Hoffe, Margot Cohn habe gar keine Katzen über die Manuskripte klettern sehen können, weil ihre Katzen nicht in das Zimmer ihrer Mutter durften, wo die Papiere aufbewahrt wurden.

      In einer Gerichtsverhandlung im Februar 2011 unter Vorsitz von Richterin Kopelman Pardo nahm Hoffes Anwalt Margot Cohn ins Kreuzverhör. Er fragte, ob sie sich an die Farbe des Bücherregals in der Wohnung der Hoffes in der Spinoza-Straße erinnern könne.

      »Nein.«

      Wenn sie sich nicht an die Farbe des Bücherregals erinnere, hakte er nach, warum könne sie sich dann so lebhaft an die Unordnung und die Katzen erinnern?

      Ein Regal, erwiderte sie, »ist unter Jeckes [Juden deutscher Herkunft] normal und fiel mir nicht weiter auf. Aber Katzen und stapelweise Papier fand ich ungewöhnlich.«

      Einen Monat später wurde Cohn erneut vorgeladen, um sich zu der Frage zu äußern, ob Brod seine Kafka-Manuskripte an Hoffe übergeben habe.

      Cohn: »Dass er ihr Geschenke machte, wusste ich. Das war kein Geheimnis.«

      Richterin Kopelman Pardo: »Er machte ihr Geschenke?«

      Cohn: »Er schenkte ihr Bücher, Manuskripte.«

      Schmulik Cassouto, gerichtlich bestellter Verwalter für Ester Hoffes Nachlass, hielt dagegen, Margot Cohn hätte damals eine gerichtliche Anordnung für die Herausgabe der für die Bibliothek vorgesehenen Materialien erwirken können, wenn sich die Nationalbibliothek wirklich als Erbe der vernachlässigten Manuskriptstapel betrachtet hätte. Er rief dem Gericht zudem in Erinnerung, dass sich Cohn, die Brod nur einmal begegnet war, wohl kaum in der Position befand, etwas über seine Wünsche auszusagen. Man habe Cohn unbeabsichtigt »in eine unangenehme Lage gebracht, indem man sie als (ungeeignetes) Werkzeug für die Revision von Dr. Brods Testament missbrauchte«, so Cassouto. »Es gibt ein neues Deutschland, und Max Brod gehörte zu den Ersten, die das erkannten«, so der Anwalt. »Es gibt in der Tat ein neues Deutschland«, erwiderte Cohn mit einer gewissen Schärfe, »aber das heißt nicht, dass Brod erwogen hätte, sein Archiv dort unterzubringen.«

      Im Juni 1983 waren die langwierigen Gespräche zwischen Ester Hoffe und der Nationalbibliothek endgültig gescheitert. Der deutsche Literaturwissenschaftler Paul Raabe, ehemaliger Bibliotheksdirektor des Marbacher Literaturarchivs und Leiter der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, der Brod persönlich gekannt hatte, schrieb damals verärgert an Ester Hoffe:

      Es scheint wohl so zu sein, wie ich befürchtete: Sie können sich nicht entschließen, für Max Brod das zu tun, was nicht nur seine Freunde erwarten, sondern was Ihnen auch selbstverständlich sein sollte.

      Wenn es jetzt nicht zu einem Abkommen