Benjamin Balint

Kafkas letzter Prozess


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des Judentums, in der Liebe, und zwar nicht in irgendeiner ihrer spiritualen Verdünnungen, sondern im direkten erotischen Ergriffensein von Mann und Frau das Diesseitswunder, die reinste Form dieser Gottesgnade, ›Die Flamme Gottes‹, erkannt zu haben«, schreibt Brod in seiner fast 700 Seiten starken zweibändigen Abhandlung Heidentum, Christentum, Judentum (1921).20

      Auch in Brods überfrachteter Prosa dreht sich oft alles um den Eros. Sein Roman Ein tschechisches Dienstmädchen (1909) handelt von dem gebürtigen Wiener William Schurhaft, einer »symbolischen Figur des jüdischen Intellektuellen aus der Prager Bourgeoisie«, so der in Prag geborene Linguist Pavel Eisner. William verliebt sich in eine verheiratete tschechische Frau vom Land, die als Dienstmädchen in seinem Hotel arbeitet und ihm existenzielles Glück vermittelt. In Brods Autobiografie ist nachzulesen, dass der Literaturkritiker Leo Hermann, damals Vorsitzender des Prager Bar-Kochba-Vereins, über das Buch schrieb: »Der junge Autor scheint zu glauben, daß nationale Fragen im Bett entschieden werden können.« (Brod »fuhr entrüstet auf«, als er diese Worte las). Der Wiener Autor Leopold Lieger warf Brod 1913 vor, seine Liebesgedichte im Bett zu verfassen.21

      In Brods Roman Die Frau, nach der man sich sehnt (1927) klingt die tragische Beziehung zwischen Kafka und Milena Jesenská an, seiner verheirateten tschechischen Übersetzerin und Geliebten, die geprägt war von ihrer Treue zu Kafkas Prosa und der Untreue ihres Mannes zu ihr. Brods Erzähler findet in Stascha die ersehnte Erfüllung, doch wie Milena kann und will Stascha ihren Ehemann trotz seiner Affären nicht verlassen. (Brod kannte Milenas Mann Ernst Pollack aus der Prager Literaturszene. Den Namen seiner Figur könnte er einer von Milenas besten Freundinnen entlehnt haben, der Übersetzerin Staša Jílovská.) Der Roman diente 1929 als Vorlage für einen Stummfilm mit Marlene Dietrich als Stascha.

      Ganz anders als Brod fragte sich Kafka 1922 in seinem Tagebuch: »Was hast Du mit dem Geschenk des Geschlechtes getan? Es ist mißlungen, wird man schließlich sagen, das wird alles sein.« Viele der von ihm besonders bewunderten literarischen Vorbilder – Kleist, Kierkegaard, Flaubert – seien ihr Leben lang Junggesellen gewesen, so Kafka. »[D]u weichst den Frauen aus«, warf Brod ihm vor. »Du versuchst, ganz ohne sie zu leben. Und das geht nicht.« (Dieselbe Kritik übte er an einigen von Kafkas fiktionalen Schöpfungen. So beschuldigte er Josef K. in Der Prozess der Lieblosigkeit.)22

      Trotzdem holte Brod häufig Kafkas Rat ein, wenn er unter den Wechselfällen junger Liebe litt. Im Jahr 1913 verlobte er sich mit Elsa Taussig, die später aus dem Russischen und Tschechischen ins Deutsche übersetzte. Kafka schrieb an Felice Bauer, er habe »zu Maxens Verlobung sehr und vielleicht ein wenig mitentscheidend geraten«. Doch unmittelbar nach dem Fest hatte er noch geklagt: »Schließlich wird er mir doch wegverlobt.«23

      Das war nicht nur eine Freundschaft, sondern die literarische Verstrickung zweier sehr unterschiedlicher Charaktere: eines genialen Schriftstellers und eines geschmackvollen Schriftstellers, der das Genie erkannte, ihm aber nicht das Wasser reichen konnte. Diese Verstrickung warf eine Reihe von Fragen auf: Welche Rolle spielte Kafka in Brods Prosa? Und war Brod nur zufällig ein Weggefährte des schreibenden Kafka, oder war er tiefer in sein Schaffen verwoben?

      Max Brod betrachtete sich in mehrfacher Hinsicht als »Zwischenmensch«, zwischen der deutschen, tschechischen und jüdischen Kultur schwankend und somit auf alle drei eingestimmt. In Prag standen, so Brod, »drei Nationen im Kampf gegeneinander«, eine Situation, der Brods junge Generation mit einem »altklugen Realismus« begegnete. Zu einer Zeit, in der, wie Anthony Grafton es formulierte, Prag die europäische »Hauptstadt kosmopolitischer Träume« war, sicherte sich Brod einen Platz als littérateur in der als Prager Kreis bekannten kulturellen Enklave. (In Prag kämen, so der dort geborene Kulturkritiker Emil Faktor, »auf zehn Deutsche zwölf literarische Talente«.)24 Das Wunderkind Brod, das schon als Teenager seine ersten Veröffentlichungen hatte, erwarb sich früh den Ruf eines wandlungsfähigen Dichters, Romanciers und Kritikers – von seiner Tätigkeit als geschäftstüchtiger Netzwerker einmal zu schweigen – und galt als erfolgreichster Prager Schriftsteller seiner Generation. Mit 25 Jahren korrespondierte Brod mit Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal, Thomas und Heinrich Mann, Rainer Maria Rilke und anderen renommierten Literaten der Zeit. Der Prager Journalist Egon Erwin Kisch besuchte 1912 ein Café im Londoner East End, in dem jiddische Muttersprachler verkehrten:

      Ein neunzehnjähriger Junge ist durchgebrannt vom Lodzer Seminar – er will nicht Bocher [rabbinischer Schüler] sein und nicht Rabbiner werden, er will dichten, die Welt erobern, Bücher schreiben, »ein zweiter Max Brod werden«.25

      Anders als Kafka schuf Brod ein umfangreiches Werk (man kann schon fast von Schreibsucht sprechen). Veröffentlicht wurden fast neunzig Titel: zwanzig Romane, Gedichtsammlungen, religiöse Abhandlungen, polemische Einblattdrucke (Brod bezeichnete sich als »Polemiker wider Willen«), Dramen (unter anderem über biblische Gestalten wie Königin Ester und König Saul), Aufsätze, Übersetzungen, Libretti, Klavierkompositionen und Biografien.26

      Brod, der dazu neigte, in anderen Größe zu suchen, erlag als Erster der Faszination von Kafkas eigenwilliger Prosa, erkannte als Erster die große Bandbreite und Vielfalt seines Schaffens. Als Kafka ihm aus seinen frühen Erzählungen »Beschreibung eines Kampfes« und »Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande« vorlas, hatte er »sofort den Eindruck, daß hier keine gewöhnliche Begabung, sondern ein Genie sprach«. (Voll Ehrfurcht las er auch seiner künftigen Frau Elsa einen Entwurf der »Hochzeitsvorbereitungen« vor.) Im April 1915 trug ihm Kafka den Entwurf zweier Kapitel seines in Arbeit befindlichen Romans Der Prozess vor; Brod notierte begeistert in seinem Tagebuch: »Er ist der größte Dichter unserer Zeit.« Bei der Lektüre von Kafkas Entwürfen hatte Brod nicht etwa das Gefühl, einer völlig neuen Literatur zu begegnen, sondern sie gewissermaßen schon immer gekannt zu haben. Er imitierte Kafkas Werke nicht, doch sie veränderten ihn. Von nun an brachte Brod Kafka eine, wie er selbst einräumte, »fanatische Verehrung« entgegen. Darüber hinaus sei ihm Kafka sein »Gewissensrat«, ein Freund, »der immer in allen schwierigen Lebensfragen maßgebend war und hilfreich zur Seite trat«.27

      Kafka war auch Brods erstes Publikum und fand oft in seinen Werken Trost. Im Jahr 1908 las er Brods erstes umfangreiches Werk, den Avantgarde-Roman Schloss Nornepygge. »[N]ur Dein Buch, das ich jetzt endlich geradenwegs lese, tut mir gut«, schrieb der niedergeschlagene Kafka seinem Freund.28 Ein paar Jahre später gab Brod Kafka einen Entwurf seiner Gedichte zur Prüfung, die 1910 unter dem Titel Tagebuch in Versen erschienen. Kafka empfahl, etwa sechzig Gedichte zu streichen.

      Kafkas Bewunderung für Brods Tatkraft und Unternehmungsgeist wuchs im gleichen Maße wie die Unzufriedenheit mit sich selbst. Nehmen wir den Tagebucheintrag, den Kafka, damals 27 Jahre alt, am 17. Januar 1911 verfasste:

      Max hat mir den ersten Akt des »Abschiedes von der Jugend« vorgelesen. Wie kann ich so, wie ich heute bin, diesem beikommen; ein Jahr müßte ich suchen, ehe ich ein wahres Gefühl in mir fände […].29

      In jenem Herbst begannen Kafka und Brod mit der Arbeit an einem gemeinsamen Roman, der den Titel Richard und Samuel erhalten sollte.30 Sie veröffentlichten das erste Kapitel in der von ihrem Freund Willy Haas herausgegebenen Prager Zeitschrift Herder-Blätter, gaben das Projekt dann aber auf. »Ich und Max müssen doch grundverschieden sein«, notierte Kafka in seinem Tagebuch. »So sehr ich seine Schriften bewundere […], so ist doch jeder Satz, den er für Richard und Samuel schreibt, mit einer widerwilligen Koncession von meiner Seite verbunden, die ich schmerzlich bis in meine Tiefe spüre.« Drei Jahre später beklagte er: »Ich bin Max unklar und wo ich ihm klar bin, irrt er sich.«31

      Wünschte sich Brod, wenn er einen von Kafkas Entwürfen las, der Autor zu sein? Ungeachtet seines umfangreichen Schaffens wusste Brod wohl insgeheim, dass ihm zwar Geschmack und Urteilsvermögen gegeben waren, nicht aber das Talent, ein wahrhaft originelles Kunstwerk zu erschaffen. Als Beobachter von Kafkas Genialität musste er sich auf etwas verlassen, das außerhalb seiner selbst lag.32

      Menschen, die keine Künstler sind, mögen versuchen, Kunstwerke, die sie nicht wirklich ihr Eigen nennen können, zumindest materiell in ihren Besitz zu bekommen. Brod sammelte, wie wir noch sehen werden, geradezu