Büttenpapier entgegen, die eigenwillige Handschrift der Tochter sogleich erkennend. Mit halblauter Stimme liest sie vor:
Claudia Gräfin zu Lauenstein, Prinzessin von Wallburg.
Von mir persönlich verfasst.
Sie langt nach einem Brieföffner, zögert aber, ihn anzusetzen und den zugeklebten Verschluss zu durchtrennen. Sie wendet sich an den Besucher.
„Würden Sie bitte Frau Dahlmann hereinrufen? Ich möchte sie bei mir haben, wenn ich Claudias Brief lese.“
Erst als Dahlmann auf einem abseits stehenden Stuhl Platz genommen hat, entnimmt die Fürstin dem Kuvert einen doppelseitig hand-beschriebenen Bogen Papier und beginnt leise zu lesen.
Es ist ein langer Brief, der an verschiedenen Stellen Tränenspuren aufweist.
Agnes Dahlmann und Harald Wegener sitzen schweigend und abwartend auf ihren Stühlen. Vogelgezwitscher dringt durch das geöffnete Fenster. In der Halle tickt langsam und bedächtig die alte Standuhr, schlägt unaufgeregt mit sonorem Ton viermal, während die kleine französische Pendule im Arbeitszimmer des Fürsten eifrig und nervös die Sekunden zählt. Sie hören den stockenden Atem der Fürstin, ihr verhaltenes Schluchzen, nehmen mit Erschrecken wahr, wie sie die Lektüre immer wieder unterbricht, das Papier in fassungslosem Entsetzen zwei bis dreimal in den Schoß fallen lässt und schließlich einen Sturzbach von Tränen nicht mehr zurückhält.
„Mein armes Kind – was haben wir dir angetan – mein armes kleines Mädchen, meine Claudia … nein, nein …“
Ehe sie ihren Kopf auf die Tischplatte sinken lässt, reicht sie den Brief an Agnes Dahlmann weiter. „Bitte, lies ihn … Ich kann nicht glauben, dass das wahr ist … mein armes Kind, meine Claudia …“
Dahlmann starrt auf die Zeilen, liest, hält inne, liest mit schreckensweit geöffneten Augen weiter, ungläubig den Kopf schüttelnd. „Meine Laudi, meine Laudi …“ Vor ihren tränenblinden Augen verschwimmen die Buchstaben.
Harald Wegener steht am Fenster, hilflos die Hände faltend und wieder lösend und nach Worten suchend. Die Fürstin nimmt Dahlmann den Brief ab und reicht ihn schluchzend an den Anwalt weiter.
„Lesen Sie – Sie kannten sie so gut … wie konnte sie so etwas Entsetzliches tun? Haben wir sie dazu getrieben?“
Nur widerwillig beginnt er zu lesen.
Lauenstein
Liebste Mama,
ich weiß nicht, warum ich diesen Brief gerade heute und gerade an Dich richte. Vielleicht, weil in der Zeitung ein Bericht über einen plötzlichen, unerwarteten Todesfall stand, der mich tief ergriffen hat, obwohl ich die erwähnten Menschen nicht einmal kenne. Aber gibt es so etwas wie Ahnungen? Jedenfalls drängt es mich, diesen Brief zu schreiben und mein sorgsam gehütetes Geheimnis zu offenbaren. Wem außer Dir könnte ich mich anvertrauen? Ich hoffe einfach, dass Du es sein wirst, die diesen Brief eines Tages in Händen halten und lesen wird, falls ich vor Dir sterbe.
Er wird Dich schockieren – bitte verzeih mir.
Wenn Du ihn liest, werde ich nicht mehr am Leben sein. Das ist die Bedingung, mit der ich ihn Harald Wegener übergebe. Er ist mir ein Freund, der mein volles Vertrauen genießt.
Ich habe in meinen jungen Jahren einen furchtbaren Fehler begangen, der mein Gewissen bis heute in unerträglichem Maße belastet, den zu korrigieren ich dennoch nicht imstande bin. Bitte versuch Du es im Interesse meiner Söhne, die Deine Enkel sind.
Erinnerst Du Dich, dass ich bald nach meinem Abitur für einige Zeit nach Amerika ging? Kurze Wochen vorher hatte ich eine einmalige leidenschaftliche Begegnung mit einem verheirateten Mann. Den Namen des Mannes möchte ich nicht nennen, um nicht noch einmal in sein Leben einzugreifen. Kurz nach diesem Ereignis flog ich in die Staaten, um meine Stelle als Au-pair anzutreten. Kaum angekommen, stellte ich fest, dass ich schwanger war. Völlig kopflos, von der Situation überfordert und zu feige, Euch meine Situation zu bekennen, beriet ich mich telefonisch mit dem o. e. Mann. Wir waren beide zunächst ratlos.
Vater war damals schon schwer krank und schonungsbedürftig, Du littest unter Depressionen – ich habe es nicht übers Herz gebracht, Euch meine Lage zu beichten. Auch wollte ich um jeden Preis einen Skandal vermeiden, denn mit Sicherheit wäre die außereheliche Schwangerschaft der Prinzessin von Wallburg durch sämtliche Klatschspalten gegangen und für Euch zu einer unerträglichen Belastung geworden. Auch Michael zu Lauenstein, mit dem ich damals schon verlobt war, hätte ich eine große Enttäuschung und Kränkung nicht ersparen können.
Zu einer Abtreibung konnte ich mich aus unterschiedlichen Gründen nicht entschließen. So habe ich während meines Aufenthaltes in den USA unter geändertem Namen zwei Söhne geboren und sie in meiner Verzweiflung unmittelbar nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Ich habe sie nie gesehen. Die Freigabe meiner Kinder zur Adoption schien mir damals der einzige Ausweg.
Heute weiß ich, dass das ein furchtbarer Fehler war, worunter ich leide, wofür ich seit Jahren büße und den ich rückgängig machen möchte, obwohl ich weiß, dass es meinen Söhnen gut geht und dass sie verantwortungsbewusste und liebevolle Eltern bekommen haben.
Ich wurde damals in Seattle als Kindsmutter unter dem Namen Karin Weiler registriert, der angebliche Vater heißt James Gardmann. Er war ein Freund des eigentlichen Vaters, der in Deutschland lebt und damals der Adoption zustimmte, um seine Familie zu schonen. James Gardmann hat seinerzeit in Seattle alle Formalitäten für mich erledigt. Ich stand mit ihm über Jahre in lockerem Kontakt, war immer wieder versucht, mich zu der Situation zu bekennen, aber er ist gestorben, ehe ich mich zu einem Entschluss durchringen konnte.
Die Vermittlung der Kinder besorgte seinerzeit die St. Agatha-Church of Seattle. Über ihren Verbleib weiß ich nur, dass einer der eineiigen Zwillinge von einer deutschen Diplomatenfamilie namens Werthstein adoptiert wurde. Die Spur seines Bruders führt nach Sao Paulo, Brasilien. Seine Adoptivmutter ist Deutsche. Ihr Ehemann heißt Alfredo de Souza.
Meine Söhne wurden am 22.6.1997 geboren. Sie heißen Christopher Werthstein und Alessandro de Souza. Sie waren ein Teil meines Lebens, auch wenn ich sie nie kennenlernen konnte.
Wie zu Anfang des Briefes erwähnt, werde ich zu dem Zeitpunkt, da Du dieses Schreiben liest, nicht mehr am Leben sein. Noch bin ich gesund und stehe mitten im Leben und schreibe diesen Brief nicht, weil ich wirklich Todesahnungen habe, aber der Tod von James Gardmann hat seinerzeit in mir den Entschluss geweckt, so etwas wie ein Seelen-Testament zu verfassen.
Inzwischen bin ich nämlich nach unzähligen schlaflosen Nächten des Bereuens zu der Einsicht gelangt, dass meine Söhne ein Anrecht darauf haben, über ihre Herkunft aufgeklärt zu werden. Sie sollen wissen, dass sie eine Schwester und zwei Großmütter in Deutschland haben. Aber ich weiß nicht einmal, ob sie von ihren Adoptiveltern je erfahren haben, dass ihre leibliche Mutter in Deutschland lebt und dass sie zu einem Zwillingspaar gehören. Sollen sie es überhaupt wissen? Sie werden in einigen Monaten zwanzig Jahre alt sein. Habe ich noch das Recht, mich nach so vielen Jahren in ihr Leben einzumischen?
Mama, hilf mir, wenn Du die Kraft dazu hast. Wenn auch Du es für richtig hältst, suche meine Söhne, sei ihnen eine fürsorgliche Großmutter. Bitte Dahlmann und Harald Wegener um Beistand. Esther soll wissen, dass sie zwei Brüder hat. Tröste Michael, dem ich als seine Ehefrau immer treu war, weil ich ihn innig liebe.
Liebste Mama, verstoße mich nicht aus Deinem Herzen. Ich war feige und hatte Angst vor allen Konsequenzen, auch um Euretwillen. Du bist eine starke Frau – trotz Deiner Depressionen. Du wärst in meiner Situation mutiger und nicht so kopflos gewesen.
Wirst Du mir verzeihen und mich in guter Erinnerung behalten können?
Ich werde es leider nicht mehr erfahren, hoffe aber fest darauf.
In Liebe
Deine Tochter Claudia.
Harald