Arno Endler

E-Fam Exodus


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      Es waren Dutzende. In unterschiedlichen Stadien der Dehydrierung lehnten sie an den Bäumen. Niemand tat etwas gegen das Sterben, niemand spendete Trost. Diese bitgefuckten Aasgeier von den Poeten scheffelten das Geld und überließen Bürger einfach ihrem Schicksal.

      »Wie teuer?«, schleuderte ich die zornigen Worte Peabloid an den Hinterkopf.

      »Wie meinen?« Er veränderte seine Schrittlänge nicht, hielt stur den Kurs auf dem Kiesweg und wandte nur leicht den Kopf, um mich aus dem Augenwinkel heraus anzuschauen.

      »Was kostet es, hier sterben zu dürfen?«, präzisierte ich.

      Der Weg verlief in einer scharfen Rechtskurve. Drei, vier Bäume standen zu einer Gruppe vereint. Links dahinter ein Poetree und an diesem lehnte Kore Gangnes. Mein Auftrag. Und er lebte noch.

      »Sie bezahlen mit ihren Erinnerungen, Bürger Mayer. Mit nicht mehr und nicht weniger.«

      »Sie sind keine Mediziner, wie können Sie es verantworten, dass die Bürger ...?« Ich beendete meine Vorwürfe. Genauso gut hätte ich mit einem simplen Sprachassistenten diskutieren können. Peabloid würde die Falschheit seines Handelns nicht einsehen.

      Wir erreichten den Poetree, an dem Bürger Gangnes auf sein Ende wartete.

      Ich kniete mich vor ihn, musterte das entspannt wirkende Gesicht. »Otto?«, subvokalisierte ich. »Hast du Zugriff auf seine Vitaldaten?«

      »Zu meinem Bedauern, nein, Bürger Mayer. Diese Abteilung von POETS PLC ist stärker abgeschirmt. Mir gelingt es gerade so, den Videokontakt zu halten.«

      »Meinst du, dass ich ihn einfach von dem Poetree trennen kann?«

      »Die Datenlage ist nicht gesichert. Sie sollten Bürger Peabloid befragen. Soll ich die Abteilung drei der Capital-Crime-Einheit informieren?«

      »Warte noch. Ich möchte nicht hier sein, wenn die Capcops eine Razzia abhalten.«

      Ich wandte mich an den POETS-Angestellten. »Kann ich ihn ansprechen?«

      Peabloid zuckte mit den Schultern. »Er wird Sie nicht hören, Bürger Mayer. Er lebt in seiner ganz eigenen Welt, die er sich selbst ausgesucht hat.«

      »Wie lange dauert es bis ...?«

      »Zum Tod?«, vervollständigte Peabloid meine Frage. »Nun, im Schnitt etwa vier Tage. Bürger Gangnes ist in sehr guter körperlicher Verfassung gewesen. Ich denke, es könnten bei ihm auch acht Tage werden.«

      Ich bemerkte den Krampf in den Fingern meiner rechten Hand. Eine Faust, die unbedingt in Peabloids Gesicht landen wollte. Ich löste die Anspannung und versuchte es betont neutral zu formulieren. »Kann ich ihn von dem Poetree lösen?«

      »Er hat einen Vertrag mit uns geschlossen, Bürger Mayer«, widersprach Peabloid und wirkte tatsächlich empört. »Es wäre gegen seinen erklärten Willen.« Er blickte hoch in den Baumwipfel. An einem der Äste glitzerte ein Kristall.

      »Das habe ich nicht gefragt.« Ich stemmte mich hoch und trat näher an den hochgewachsenen Mitarbeiter der PLC heran.

      Er wich gewohnheitsmäßig zurück. Seit den Seuchen in den späten 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts galt so etwas wie ein Berührverbot in der Mega-City Neun. Eine gesellschaftlich verankerte Verhaltensweise, die ich nun bewusst missachtete. Meine Hand zuckte vor und ich tippte ihm mehrfach mit dem Zeigefinger gegen die Brust. An seinen Wangen bildeten sich augenblicklich rote Hektikflecken. Er schnappte nach Luft und machte mehrere Schritte rückwärts, was ihm nichts nutzte.

      Ich setzte sofort hinterher, hielt den zu kurzen Abstand. »Los jetzt! Kann ich ihn von dem bitgefuckten Baum lösen? Reden Sie schon!«

      An seiner Stelle hätte ich längst den Sicherheitsdienst benachrichtigt, doch meine Unverschämtheit blockierte wohl seine Nervenbahnen. »Ja, ja. Die Filamente ziehen sich automatisch zurück, sobald der Kunde sich nach vorne bewegt. Er ist nicht gefesselt. Jetzt lassen Sie mich in Ruhe!«

      Ich sah Tränen in seinen Augen, daher ließ ich von ihm ab. »Danke! Bürger!«, stieß ich wütend hervor. Ich musste mir eingestehen, dass es befriedigend gewesen war, meine Wut an Peabloid auszulassen, auch wenn er wahrscheinlich nur einen Subalternen in der Hierarchie der PLC darstellte. Ich näherte mich Gangnes, packte ihn vorsichtig an den Schultern und zog ihn zu mir heran.

      Seine Augenlider flatterten nahezu augenblicklich, ein Stöhnen kämpfte sich durch die rissigen Lippen. Da war plötzlich eine dichte Geruchswolke aus Urin, Schweiß und ungewaschenen Füßen. Ich atmete nur noch durch den Mund. Bürger Gangnes wehrte sich nicht, sackte mir in die Arme. Endlich öffnete er die Augen.

      »Es ist alles gut, ich bin hier, um Sie mitzunehmen«, flüsterte ich ihm zu. Gangnes kannte mich nicht. Ich sah ihm die Verwirrung an. Er versuchte zu sprechen, doch sein Mund war wohl zu trocken. Er schaffte es nicht.

      »Können Sie stehen?«, fragte ich. Ohne seine Antwort abzuwarten, zerrte ich ihn hoch. Zu verwirrt, um Widerstand zu leisten, stand er bald schon auf den eigenen Beinen. Er begaffte mich, ließ es jedoch zu, dass ich mir seinen Arm um die Schulter legte und ihn mit mir zog. »Wir gehen jetzt.«

      Bürger Peabloid wirkte konsterniert. Er verharrte mit verschränkten Armen auf dem Weg, ohne uns zu blockieren. »Sie können doch nicht einfach ...«

      »Ich kann. Und ich werde!« Gangnes ließ sich widerspruchslos von mir führen. Schritt für Schritt schien er an Kraft zu gewinnen. Die Einschätzung Peabloids über die körperliche Verfassung des Bürgers war korrekt gewesen. Gangnes war schlank und ich spürte seine Muskulatur. Wahrscheinlich trieb er viel Sport. Mit seinen 25 Jahren war der Programmierer so fit, wie er nur sein konnte. Ich fragte mich, weshalb er überhaupt hatte sterben wollen. Und warum wehrte er sich nicht, weil ich ihn gerade daran hinderte?

      Wir wurden schneller. Ich registrierte, dass die Last sich in dem Maße verringerte, wie Gangnes eigenständiger wurde. »Was tun Sie hier?«, gelang es ihm nach einigen Metern, die Worte zu formulieren.

      »Ich bringe Sie hier raus«, entgegnete ich, ohne auf den Kern seiner Frage einzugehen. »Otto? Irgendwelche Hindernisse auf dem Weg? Sicherheitsleute, verschlossene Türen? Selbstschussanlagen?«

      »Mit wem sprechen Sie?«, erkundigte sich Gangnes.

      »Mit meinem E-Fam?«

      »Ihrem ...?« Er verstummte abrupt, löste seinen Arm und blieb stehen. »Wer schickt Sie? Synnove?«

      »Wer ist Synnove?«, fragte ich verwirrt. »Wir sollten übrigens dringend weiter.«

      Ottos Stimme drang zu mir durch. »Sie sind sicher, Bürger Mayer. POETS PLC hat beschlossen, den Kunden aufzugeben. Niemand wird Sie aufhalten.«

      Gangnes rieb sich mit beiden Händen das Gesicht, knetete seine Schläfen. »Ich gehe nirgendshin. Wer sind Sie?«

      »Mein Name ist Mayer. John Mayer. Ich bin Privatermittler und von Cybersearch beauftragt, einen Mitarbeiter aufzuspüren, der plötzlich verschwunden ist.«

      »Cybersearch?«, echote Gangnes.

      »Ja. Ihr Arbeitgeber. Bürgerin Gundebar hat sich Sorgen gemacht. Sie haben sich seit einigen Tagen nicht mehr gemeldet. Um es mit ihren eigenen Worten wiederzugeben: Ihr bestes Pferd im Stall ist unerwartet abgetaucht. Sie hat angenommen, dass es mit Ihrem letzten Job zu tun hat.«

      Bürger Gangnes schüttelte den Kopf. »Hat es nicht, nein.«

      Er log. Ich sah es ihm so deutlich an, dass ich es beinahe herausgeschrien hätte. Doch dies war nicht Bestandteil meines Auftrags. Ich sollte ihn lediglich aufspüren und ihn Kontakt aufnehmen lassen. Daher ging ich auf die Lüge nicht ein. »Okay, verstanden. Ich schlage vor, wir verlassen diesen morbiden Ort und Sie machen sich frisch, melden sich bei Ihrer Chefin und danach können Sie tun, was auch immer Sie wollen.«

      Es war offensichtlich, dass Bürger Gangnes noch nicht ganz bei sich war. Gefühlte Minuten lang starrte er mich an, ohne eine Äußerung. Er packte sich an die Stirn, presste seine Finger so fest dagegen, dass