Andrea Nagele

Du darfst nicht sterben


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auf dem weißen Laken.

      Er fühlt sich wie nach einem Krampfanfall. Ermattet. Jeder Muskel schmerzt. Sandig die Haut, pelzig die Zunge. Lippen und Mundwinkel brennen, als wären sie mit Lauge in Berührung gekommen. Ein Durcheinander in den Gedanken. Gewitter im Kopf, Blitz und Donner.

      In all dem Gewirr die eine schreckliche Erkenntnis: Er hat Anne getötet und Lili nicht gefunden.

      Sein Kopf schnellt vom Kissen hoch. Bestürzt starrt er in den gleißenden Lichtstrahl der Neonröhre über dem Bett. Er hat kaum geschlafen, noch immer sind Geist und Körper gleichermaßen erschöpft. Zwanghaftes Schlucken drängt den ekligen Geschmack aus Rachen und Mundhöhle zurück, unterdrückt den Brechreiz.

      Immerhin, die Glieder beben nicht mehr so heftig, und sein Herz pumpt regelmäßiger das Blut durch die Adern.

      Durch das geöffnete Fenster dringt Nachtluft, ein Gemisch aus Benzin und Dieselgestank von der nahen Tankstelle. Das Dröhnen der Lastwagen auf der Autobahn ist dem sanften Surren der Pkws gewichen.

      Vorsichtig hebt Paul seine rechte Hand, hält sie dicht vor die Augen, betrachtet sie eingehend. Diese fünf Finger hatten sich um den Griff des Messers gekrallt. Fast von allein war die Klinge in ihren schlanken Hals geglitten.

      Er hat sie getötet.

      Trotz der Demütigungen, der Verletzungen, die seine Seele zu einem schmerzenden Narbengewächs haben verkommen lassen, ist er hilflos gegen die aufsteigende Verzweiflung.

      Warum nur hatte sie ihm Lili genommen? Seine wunderbare Frau, die er abgöttisch liebt. Den Gefühlen von Trostlosigkeit und Zorn ausgeliefert, schmerzt es weniger, der Wut nachzugeben.

      Das rasche Eintreffen der Polizei hatte ihn vertrieben. Er wollte nur seine Lili zurück, jetzt hat sie eine tote Schwester und Annes Kind keine Mutter.

      Lange Monate waren mit der Suche nach den beiden vergangen, dann lange Tage mit der Beobachtung des Hauses. Zweimal war er vor dieser Nacht in der Wohnung gewesen, um zu sehen, wie sie leben.

      Warum haben sie sich nicht besser vor Eindringlingen geschützt?

      Vielleicht wollte Lili ja von ihm gefunden werden?

      Dennoch hatte sie sich vor ihm versteckt.

      Lili hätte sich nur ein wenig anstrengen müssen, und alles wäre gut geworden. Paul und Lili, später dann ein Kind, für immer als Familie vereint. Nie wollte er mehr.

      Entschlossen drängt er den Kummer, der ihn wieder zu überwältigen droht, weg. Er muss stark sein.

      Irgendwo wartet seine Lili. Diesmal wird er sie finden.

      3

      Die türkisfarbenen Augen meiner Schwester sehen mich an.

      Hab keine Angst. Alles wird wieder gut, möchte ich ihr sagen. Doch ich bringe kein Wort hervor, kann meinen Mund nicht öffnen, den Körper keinen Millimeter bewegen. Angeschlossen an Maschinen liege ich in einem abgedunkelten Zimmer. Blinkende Lichter werfen bizarre Bilder an die Decke. Schrille Töne erreichen meine Ohren und lassen mich erzittern.

      Mehrmals setzt meine Schwester an, bevor sie zu sprechen beginnt.

      Hält sie meine Hand?

      An ihren Mundbewegungen erkenne ich, dass sie gegen die Geräusche im Raum anflüstert. Bemerkt sie, dass ich sie kaum verstehe? Ihre Lippen nähern sich meinem Gesicht.

      Noch immer ist da nicht mehr als der Hauch ihrer Stimme.

      »Er hat uns verwechselt, Lili.«

      Hat er das? Fragen drängen aus der Tiefe meines Bewusstseins empor und überschwemmen mein Denken. Doch die Müdigkeit macht mich schwerfällig. Ich kann nichts ordnen, das verknotete Wollknäuel in meinem Kopf nicht entwirren. Jeder Gedanke tut weh.

      Hanna.

      »Sei unbesorgt.« Die Worte kitzeln meine Haut. »Hanna geht es gut. Sie schlief tief und fest in ihrem Versteck und ist nicht aufgewacht, als ich sie zum Wagen trug.«

      Was, wenn meine Schwester mich anlügt? Was, wenn sie mich nur beschwichtigen will?

      Angst zerreißt meine Brust. Wie in einem Kaleidoskop zerplatzen Farben vor meinen Augen in tausende Mosaiksteine, verschwimmen, setzen sich neu zusammen, bilden weitere Muster.

      Meine Lippen werden auseinandergezwungen. Bittere Flüssigkeit dringt in meinen Mund. Gurgelndes Würgen.

      Schlucken. Ich muss schlucken.

      Ein tröstend warmer Sog aus tiefblauem Wasser nimmt mich auf. Dichter Unterwasserdschungel, gemalt in berauschenden Farben, reicht bis an den feinkörnigen Sandstrand. Grün. Violett. Purpurrot. Strahlendes Gelb. Der Duft der üppigen Tropenblumen nimmt mir den Atem, und so tauche ich tief hinab ins salzig schmeckende Meer. Über mir glitzern Sonnenstrahlen zwischen sich sanft kräuselnden Wellen. Kleine Fische schwimmen im Schwarm um mich herum. Ihre Bewegungen sind fließend. Aufeinander abgestimmt, bilden sie ein silbern schimmerndes Ornament. Hin und wieder kreuzt ein größeres Exemplar meinen Weg und blickt mich mit freundlichen Augen an.

      Ich sinke dem schlammigen Grund entgegen.

      Ein Schiffswrack, um das sich goldene Ketten winden, versperrt mir die Sicht. Aus einer halb geöffneten Schatzkiste funkeln Rubine und Smaragde. Verzaubert lasse ich mich treiben und strecke den bleichen Arm nach der Schmuckschatulle aus. Die Tiefe des Meeres verlangsamt meine Bewegungen. Ich taste mich näher, doch kaum berühren meine Finger den glänzenden Deckel, werde ich zurückgerissen. Eine Hand greift nach meinem Hals und umklammert ihn.

      In Todesangst schlage ich mit Beinen und Armen um mich. Pauls hasserfüllte Augen starren mich unverwandt an. Meine Zehennägel kratzen Rillen in seine Haut. Dann lässt er mich los, und ich taumle ohne Orientierung durch trüb gewordenes Wasser.

      Die behagliche Wärme ist einer frostigen Kälte gewichen.

      Mein Körper reagiert nicht mehr. Er ist lahm, wund und unbeweglich. Alles an mir ist erschlafft.

      Paul schwimmt über mir, seine rudernden Arme wirbeln das Wasser auf. Luftbläschen steigen zwischen uns hoch. Er lässt sich nach unten sinken, greift mit der Hand nach meinem Kopf, zieht mich zu sich. Seine Lippen berühren meine und pressen sie hart auseinander, sein Atem füllt meine Lunge.

      »Du hast es nicht anders verdient«, zischt er am tiefsten Punkt des Ozeans in mein Ohr.

      Ein messerscharfer Schmerz durchzuckt meine Kehle. Benommen sehe ich, wie sich das Wasser blutrot verfärbt.

      »Rettet mich!«, flehe ich die uralten Meeresgötter an.

      Aber die wenden sich ab.

      Nichts ist zu hören, außer dem anhaltend schrillen Kreischen eines Nebelhorns.

      Irgendjemand muss mich geborgen haben, denn ich liege mit einer Sauerstoffmaske über dem Gesicht im Bett eines Krankenzimmers.

      Unter meinen zuckenden Augenlidern nehme ich den Raum nur schemenhaft wahr. Schläuche ranken sich wie Lianen um meinen Körper, verbinden mich mit Geräten. Benommenheit trägt mich. Ich fühle mich wie eingehüllt in einen flauschigen Wattebausch.

      Die Träume und Bilder in meinem Kopf sind verworren. Sie gleichen Labyrinthen grüner Sträucher, aus denen es keinen Ausgang gibt. Wäre ich Künstlerin, könnte ich ganze Bilderfolgen intensiver Farben malen. Sind nicht Gauguin solch berauschende Gemälde zu verdanken? An ihn und seine Tropenbilder muss ich immerzu denken. Die üppigen Blüten Hiva Oas in betörenden Schattierungen. Wildgrüne Ranken. Lilien.

      Hieß Gauguin nicht Paul?

      Paul.

      Hanna.

      Anne.

      Angst lähmt mich. Das Schrillen der Töne schwillt an.

      Jemand beugt sich über mich. Ich bin so müde, kraftlos und schwer. Sinke dem Meeresgrund entgegen. Lasse mich von weichen Wellen treiben.

      Lange Zeit