Andrea Nagele

Du darfst nicht sterben


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seinen Händen und geht durch die geöffnete Tür den Flur entlang.

      Er hat hektisches Treiben erwartet und ist von der Ruhe, die herrscht, überrascht. Die Station erinnert ihn eher an eine Kuranstalt als an eine Abteilung, in der der Tod allgegenwärtig ist.

      Ein Pfleger schiebt einen Metallwagen an ihm vorbei, würdigt ihn keines Blickes. Eine Reinigungskraft im gestreiften Overall wischt weiter vorne mit müden Bewegungen über den Linoleumboden. Ansonsten ist der Gang leer.

      Durch die entspiegelten Glasfenster kann Paul zu beiden Seiten Gestalten in ihren Betten erkennen. Wie Mumien liegen einige da, sie sind von Kopf bis Fuß bandagiert, andere, mit bläulichen Lippen in wächsernen Gesichtern, sind an Maschinen gekettet. In keinem der Zimmer hält sich ein Besucher auf, nur Ärzte und Pflegepersonal beugen sich über Patienten.

      Wo aber liegt Anne?

      Hier noch einmal nachfragen? Besser nicht.

      Gerade als er endlich eine ihm vertraut scheinende Bahn goldig schimmernden Haares zu sehen vermeint, schrillt ein Alarm los. Paul erschrickt.

      Unmittelbar verwandelt sich die geruhsame Stille in wilden Aktionismus. Türen fliegen auf, Apparate werden über den Bodenbelag gezerrt, Ärzte folgen einer kreischenden Stimme, die alles übertönt.

      »Herzstillstand!«

      Paul bekommt einen unsanften Stoß in den Rücken.

      »Stehen Sie hier nicht herum. Ab mit Ihnen ins Zimmer acht.«

      In Annes Krankenzimmer findet er sich wieder und starrt auf ihr fahles Gesicht. Zwischen ihren langen Wimpern kann er die nach oben gerollten Augäpfel erkennen. Ihre Lippen sind tiefviolett. Paul ist so auf das Geschehen fokussiert, dass er die Person, die in seinem Blickfeld auftaucht, nicht zuordnen kann.

      »Sie da. Verschwinden Sie. Das ist nicht Ihre Station, Sie stehen uns nur im Weg.«

      »Wir verlieren sie schon wieder«, hört er jemand anderen sagen.

      Die furchteinflößenden Laute, die ein schlaffer Körper macht, wenn er zuerst hochschnellt und dann zurück auf das Laken fällt, begleiten seinen unfreiwilligen Rückzug.

      Als er das Zimmer verlässt, vernimmt er ein Pfeifen, das ihn zu einem letzten Blick über die Schulter veranlasst.

      Auf dem Monitor erscheint eine lang gezogene Linie, die nicht enden will, eine Trennlinie, die zwischen dem verblassenden Leben und dem Tod eine Grenze gezogen hat.

      Anne ist soeben gestorben.

      Wie ein geprügelter Hund schleicht Paul durch die Krankenhausgänge. Immer noch dröhnt der Ruf »Herzstillstand!« in seinen Ohren.

      Mit einem einzigen Herzschlag war alles vorbei.

      Selbstmitleid steigt in ihm auf, und er hasst sich dafür. Schau nach vorne, du hast ein Ziel!, schreit er sich innerlich an. Kurz lehnt er an der Wand, atmet durch.

      Ein Schild weist in Richtung Kantine. Er holt den Seesack, den er zuvor in die Toilettenkabine gesperrt hatte, und macht sich auf den Weg. Äußerlich noch immer ganz Oberarzt, setzt er sich an einen der schmalen Tische. Die Resopalplatte fühlt sich schmierig an, der ganze Raum vermittelt den Eindruck liebloser Geschäftigkeit. Wie ferngesteuert steht er wieder auf und holt sich etwas aus der Glasvitrine. Verbissen kaut er an einem trockenen Stück Kuchen, spült die Krümel mit Wasser hinunter. So gut es ihm möglich ist, ignoriert er die überquellenden Mülleimer. Die momentane Hitzewelle trägt nicht unbedingt dazu bei, den Abfall besser riechen zu lassen. Von einer Krankenhauskantine hätte er mehr Sauberkeit erwartet.

      Sinnlose Gedanken kreisen in seinem Kopf. Und immer wieder das Wesentliche: Anne ist tot.

      Er hat ihr Sterben miterlebt und wollte doch nur Lili bei ihr finden.

      Am Rand seines Blickfeldes betritt eine Frau den Raum. Paul starrt sie an. Das ist seine Lili, wie sie vor Jahren ausgesehen hat. Hellblonde Strähnen ringeln sich um ihre Schultern und fließen den Rücken hinab. Und natürlich erinnert ihn die Schöne auch an Anne, Lilis Zwillingsschwester.

      Aber es ist eine Fremde. Achtlos geht sie an ihm vorbei.

      Pauls Fingerknöchel treten weiß hervor, so heftig ballt er die Fäuste.

      Als er die Kantine verlässt, sieht er, dass der Flur im Gegensatz zu vorhin belebt ist. Männer und Frauen in weißer Tracht schieben Rollwagen, auf denen Geschirr klirrt, vor sich her. Paul weiß, dass in Krankenhäusern früh das Essen serviert wird.

      Heute Abend allerdings eine Portion weniger.

      Traurig setzt er sich in einen Besuchersessel im Empfangsbereich, einen, der abseits von den anderen steht, hinter einer Begrünungsanlage, aber mit guter Sicht auf die Eingangstür.

      Zum ersten Mal ist die Zeit zu seiner Verbündeten geworden, denn bald werden sie auftauchen. Sie, das sind die nächsten Angehörigen der Verstorbenen. Die trauernden Hinterbliebenen, verständigt von der Verwaltung des Krankenhauses. Sie, das ist Annes Tochter an der Hand ihrer Tante. Das letzte Abschiednehmen steht unmittelbar bevor. Und damit auch seine Chance.

      Paul sitzt bewegungslos, wird innerlich langsam ruhiger. Die Minuten verstreichen, dehnen sich zu Ewigkeiten. Immer wieder schließt er die Augen, und die Farben zerfließen. »Warum laufen wir?« Eine Stimme reißt ihn hoch. Sie klingt so ängstlich.

      Und dann hört er Lili. Sein Herz schlägt stürmisch. Freude ist da. Jubel und Angst.

      »Hanna, mach schon.«

      Hanna heißt die Kleine also. Hanna.

      Lili hat es ihr noch nicht gesagt. Vielleicht besser so, überlegt er. Leise steht er auf und schiebt sich in Richtung der vertrauten Stimme.

      Da ist sie. Seine Lili.

      Verborgen hinter Zimmerpflanzen lässt er das Bild auf sich wirken. Das Mädchen hüpft im Schein der späten Nachmittagssonne durch den Eingangsbereich. Sie trägt ein hellrosa Kleid mit einem Muster aus durch die Luft wirbelnden Margeriten. Ihre kleinen Füße stecken in weißen Ballerinas mit lose gebundenen Schleifchen. Ihre Haut hat schon etwas Farbe angenommen, die nackten Arme und Beine sind von unzähligen Sommersprossen übersät. Ein hübsches Kind.

      Dann fällt Pauls Blick auf Lili. Ihre Finger umklammern besitzergreifend die Hand des Mädchens. Ein Schmuckstein im Goldreif am Ringfinger glitzert hart, so als wolle er ihre Entschlossenheit bestätigen.

      Fragend hebt das Kind sein kleines Gesicht. Die braunen Augen blicken furchtsam. »Was ist los? Ist sie tot? Sag doch was.« Ungeduldig zieht sie am Schal ihrer Tante.

      Lili presst die Lippen aufeinander. Ihr langes Haar ist nachlässig, fast schlampig am Hinterkopf zusammengebunden, als habe sie sich in aller Eile ausgehfertig gemacht. Einige Strähnen fallen lose in ihren Kragen. »Hör auf. Gleich sind wir oben. Ich weiß noch nichts, aber es ist sicher alles in Ordnung. Komm, beeilen wir uns.«

      Das Kind, durch den strengen Ton der Tante keineswegs beruhigt, verzieht weinerlich den Mund. Weshalb lügt Lili? Sie weiß doch, dass Anne tot ist.

      Warum macht sie dem Kind Hoffnung?

      Später, später wird er genug Zeit haben, sie alles zu fragen.

      Einen Atemzug lang verschwimmen die beiden Gestalten vor seinen Augen, werden zu Schemen, die zu einer Einheit verschmelzen und ihn mit einem Lächeln näher winken. Lili. Auf ihrem Haar glänzen funkelnde Kristalle, Schneeflocken gleich.

      Dann zerstiebt das Bild, und was eben noch heil schien, ist dunkel, zerbrochen.

      Eine in Scherben gegangene Beziehung.

      Ruckartig verlässt Paul seinen Posten hinter der Grünanlage. Seitlich tritt er an Lili heran, greift nach ihr und vergräbt seine Nase im Duft ihrer Haare. »Mein Engel«, murmelt er, umfängt sie und hält sie fest umschlungen.

      Nie wieder wird er sie loslassen, sich von ihr trennen. Sie ist sein Ein und Alles, sie gehört ihm.

      »Hilfe!«

      Ihr