Andrea Nagele

Du darfst nicht sterben


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Haar. »Ich glaube, ich mag dich nicht.«

      »Dann ist ja alles in bester Ordnung.«

      Vor dem Fenster herrscht Schneetreiben, und ich versuche mich krampfhaft daran zu erinnern, ob er ein Kondom übergezogen hat.

      Benommen rutsche ich vom Schreibtisch und reinige mich oberflächlich im Badezimmer. Im Spiegel begegnet mir der Blick meiner grünen Augen über der verschmierten Wimperntusche, und ich sehe erschrocken weg.

      Zurück in seinem Zimmer, schließe ich geblendet vom Deckenlicht die Augen. Als ich sie wieder öffne, steht er vor mir und drückt mir ein Glas in die Hand.

      »Trink, das wird dir guttun.« Er sagt es ohne die geringste Spur Freundlichkeit.

      Wortlos stürze ich den Whiskey hinunter. Die Schärfe des Alkohols nimmt mir den Atem.

      Ich schlüpfe in meine Pumps, richte mein Kleid, glätte mein Haar und schlinge es zu einem losen Knoten. Die Strümpfe lasse ich in seinen Papierkorb fallen.

      »Alles ist wieder, wie es sein sollte. So wolltest du es doch, oder irre ich mich?« Seine Stimme ist samtweich, aber seine Augen funkeln wie Murmeln aus Glas.

      LILI

      Paul.

      Noch halte ich meine Augen geschlossen, noch träume ich weiter von unserem Treffen. Selten habe ich mich jemandem so vertraut gefühlt, so verstanden. Ich sehe sein Gesicht mit den braunen Augen vor mir, kann seinen Duft immer noch wahrnehmen. Dann schleicht sich ein Wermutstropfen in meine Gedanken.

      Anne.

      Meine Schwester war unterwegs, als ich gestern zu Bett ging. Ich konnte ihr nicht von meinem Glück berichten.

      Langsam öffne ich meine Augen.

      Sie liegt neben mir, das Gesicht abgewandt. Ich setze mich auf, und sie erwacht. Es riecht nach Alkohol, und auf dem Kissen sind Spuren von Lippenstift und Wimperntusche.

      »Lili«, murmelt sie schlaftrunken. »Wie schön, dass du da bist.«

      »Ich? Du warst nicht da, als ich vom Abendessen mit Paul aufs Zimmer kam.«

      Sie dreht sich zu mir, ihre Augen sind verquollen vom Schlaf, das Haar zerzaust. »Lass mich noch ein wenig im Bett bleiben, dann machen wir uns zusammen einen schönen Tag.«

      »Das sind ja ganz neue Töne«, sage ich. »Es ist schon spät, wenn wir nicht sofort aus den Federn springen, verpassen wir das Frühstück.«

      Anne wirft mir einen eigenartigen Blick zu. »Geh schon mal ins Bad und mach dich fertig.«

      »Zu Befehl, Commandante«, flachse ich.

      Als ich zurückkomme, steht Anne am Fenster und schaut auf die verschneite Landschaft.

      »Schön, nicht?« Paul fällt mir ein und wie der Schnee vor den Fenstern des Restaurants vom Nachthimmel fiel. »Ich muss dir so viel erzählen. Gestern wollte ich auf dich warten, bin dann aber eingeschlafen. Wo warst du so lange?«

      Anne dreht sich zu mir um. Sie schaut auf eine Weise, die mich an früher erinnert. Kurz habe ich den Eindruck, dass sie überlegt, was sie mir für eine Lüge auftischen soll. Dann muss ich lachen. Wir sind keine zwölf mehr, wir sind erwachsen. Sie hat keinen Grund, mich anzuflunkern.

      Statt mir zu antworten, fasst sie mich um die Taille und dreht mich im Kreis. »Heute wird uns das Frühstück aufs Zimmer serviert.«

      »Das verursacht doch Mehrkosten. Lass uns in den Speisesaal gehen.«

      »Nein. Es ist als Entschuldigung gedacht, weil …«, sie zögert, »weil ich dich bisher viel zu oft allein gelassen habe. Heute verbringen wir den Tag gemeinsam. Na, Schwesterherz, was sagst du dazu?«

      Vorerst enthalte ich mich eines Kommentars. Natürlich ist es verlockend, gemütlich auf dem Hotelzimmer zu frühstücken, andererseits hatte ich gehofft, Paul unten im Speisesaal zu treffen.

      Wenig später duftet der ganze Raum nach Eiern auf gebratenem Speck, das Brotkörbchen ist bestens gefüllt, und auf der Servierplatte sind neben Obst und Marmeladengläsern einige Käse- und Wurstsorten angeordnet.

      Während Anne im Badezimmer ist, gebe ich mich den unterschiedlichen Genüssen hin. Im Frühstücksraum habe ich mir nie so viel auf den Teller geladen.

      Anne staunt, als sie die voll bestrichenen und belegten Brotscheiben sieht. »Na, dann hau mal rein.«

      »Ertappt.«

      Wir lachen gemeinsam.

      »Und jetzt«, ordnet meine Schwester schließlich an, »geht es los. Wir machen einen Spaziergang im Schnee. Zieh dich warm an.«

      »Was ist mit deinen schwedischen Freunden? Müssen die allein auf die Piste?«

      »Heute gibt es Zwillings-Programm pur und unverfälscht.«

      »Das klingt ja vielversprechend.« Ich sage es fröhlich, weil ich mich ja wirklich freue, aber lieber noch möchte ich mich auf die Suche nach Paul machen, ihm im Schwimmbad wie zufällig über den Weg laufen.

      Nun gut, zu Mittag oder am Abend wird es sich ohnehin ergeben, und vielleicht ruft er an oder hinterlässt eine Nachricht. Außerdem brenne ich darauf, Anne alles haarklein zu berichten.

      Wir wandern über frei geschaufelte Wege hin zum Wald. Unter den Bäumen wird es beschwerlicher, uns fehlt buchstäblich die Luft zum Plaudern. Beide sind wir in unsere Daunenparkas gehüllt und tragen Pelzstiefel. Immer noch schneit es.

      Nach einer Weile habe ich genug, wir sind schon mindestens zwei Stunden unterwegs. Mein Magen macht sich bemerkbar, und der Spruch »Je mehr man isst, desto schneller wird man hungrig« bewahrheitet sich.

      »Lass uns umkehren. Sonst verpassen wir das Mittagsbüfett.«

      »Sieh mal, da vorne.« Anne zeigt auf ein paar Lichter hinter einer verschneiten Wiese. »Das soll das beste Restaurant in der Gegend sein. Ich lade dich ein.«

      Wolken gefrorener Atemluft bauschen sich vor unseren Mündern. Untergehakt stapfen wir die letzten Schritte zum Eingang. In der Mitte des Raumes knistern Holzscheite in einem offenen Kamin.

      »Hübsch hier.« Ich zeige mich begeistert, vermisse aber die Möglichkeit, einem gewissen Rothaarigen über den Weg zu laufen.

      »Finde ich auch.« Sie nimmt die Speisekarte.

      »Anne, lass dir endlich erzählen. Bist du nicht neugierig, was gestern Abend passiert ist?«

      Ihre Reaktion überrascht mich. Sie sieht mich ernst an. »Nicht jetzt. Dazu ist später noch Zeit.«

      Ein ungutes Gefühl beschleicht mich.

      »Ich muss dir etwas sagen«, fährt sie unsicher fort. Sie stockt und schaut zu Boden. »Wir müssen unsere Zelte abbrechen und leider heute noch abreisen.«

      Mir wird kalt, und mein Appetit ist verflogen. »Warum das denn?« Ich bin den Tränen nahe.

      »Tut mir leid, aber es ist nun einmal so. Ich kann es nicht ändern.«

      Sie löffelt schweigend ihre Suppe und lässt mich mit bohrenden Fragen zurück.

      ANNE

      Die Rückfahrt im Cinquecento kommt mir ewig lang vor. Das liegt vermutlich daran, dass wir nicht miteinander reden.

      Es geht steil bergab, die Strecke ist kurvig, und Lili ist sauer. Sie schmollt.

      Himmel, auch mir ist diese Entscheidung nicht leichtgefallen, aber ein weiteres Zusammentreffen von Paul und meiner Schwester musste ich um jeden Preis verhindern. Dabei hatte ich die ganze Zeit über Angst, dass Lili auf die Idee kommen könnte, allein im Hotel wohnen zu bleiben. Bis auf das selbstständige Organisieren ihrer Rückfahrt hätte nichts dagegengesprochen, aber es kam ihr nicht mal in den Sinn. Manchmal hat ihre Weltfremdheit auch etwas Gutes.

      Erst als wir vor ihrer Wohnung ankommen,