Andrea Nagele

Du darfst nicht sterben


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Piste. Gerade mal zwei gemeinsame Essen haben meine Schwester und ich bisher geschafft. Allein bin ich dennoch nie. Bereits am ersten Abend habe ich ein Mädchen aus Schweden kennengelernt, das mit seiner Clique schon einige Male in diesem Hotel war.

      Mir fällt es nicht schwer, Kontakte zu knüpfen, im Gegenteil, es macht mir Spaß. Und ehrlich, es dauert nie lange, bis ich im Mittelpunkt stehe. Auch wäre es gelogen, zu behaupten, dass mich das stört.

      So früh wie heute ist in der Schlange, die sich vor dem Lift gebildet hat, von meinen neuen Freunden noch keiner zu sehen, sie werden wohl noch ihren Kater im Bett pflegen. Mir kann Alkohol nichts anhaben, erstens trinke ich wenig, und zweitens vertrage ich viel.

      Mit einem Ruck hake ich mich im Schlepper ein und lasse mich den Hügel hinaufziehen. Die wunderschönen, frisch überzuckerten Wiesen rechts und links von mir erinnern mich an die weiß gepuderten Adventskalender meiner Schwester. Ich bevorzugte die weniger kitschigen, dafür mit umso mehr Schokolade gefüllten Exemplare. Die Luft ist kalt, und der Wind treibt Tränen in meine Augen.

      Wenn Lili aufsteht, bin ich den Hang schon mindestens zweimal hinabgefahren. Ich frage sie jedes Mal, ob sie mitwill, zumindest auf einen Spaziergang im Schnee, aber sie lehnt immer ab.

      Noch hat die Sonne kaum Kraft, doch sie bringt den Schnee zum Glänzen. Nur wenige Leute sind schon auf der Piste.

      Ein Schrei reißt mich aus meinen Gedanken.

      »Anne!«

      Eine Gestalt rast mit einem zum Gruß erhobenen Skistock an mir vorbei.

      Paul.

      Mir wird heiß unter dem Anorak.

      Vorgestern Abend warf ich mich in unserem Hotelzimmer in Schale. Enge Jeans mit Strasssteinchen, dekolletierte Samtbluse, zarte Stiefeletten. Das volle Programm.

      Lili beobachtete mich, die Hand in die Hüfte gestemmt. »Wozu der Aufwand?«, fragte sie.

      »Man weiß nie, ob einem in der Einöde nicht ein Berggeist begegnet«, antwortete ich neckend.

      Der Piccolo aus der Minibar brachte beim Aufbrezeln meinen Kreislauf in Schwung und vermittelte mir die notwendige Portion Vorfreude auf den Abend mit der schwedischen Truppe.

      »Komm doch mit. Ich verspreche dir, es wird lustig.«

      »Lustig ist nicht so meines«, entgegnete meine Schwester.

      Alles wie gehabt.

      Auch die Schwedin hatte sich herausgeputzt, und zusammen waren wir, wie ihre Freunde uns versicherten, der Hit. Wir verbrachten die meiste Zeit auf der Tanzfläche.

      Ich war schon ein wenig beschwipst, als ich mit einem Mal in ein paar dunkelbraune Augen sah. Ein großer, breit gebauter Kerl lehnte an der Bar und musterte mich von Kopf bis Fuß. An meinem Dekolleté blieb sein Blick hängen.

      Meine neue Freundin zog mich weiter, und ich verlor ihn in der Menge. Schade. Aber auf einmal stand er wieder vor mir, und wie auf ein geheimes Kommando kam ein langsamer Song. Wir schmiegten uns aneinander, und ich kann nur sagen, der Kerl roch gut. Seine Hand glitt meinen Rücken entlang und verharrte an der Stelle, an der die Samtbluse hochgerutscht war und seine Finger nackte Haut berührten.

      »Schön, dich wiederzusehen«, flüsterte er in mein Ohr.

      Ich sah ihn erstaunt an.

      »Du bist heute Nachmittag vor mir im Lift den Hang hinaufgefahren.«

      Jetzt musste ich lachen. »Du hast mich an meiner Rückseite wiedererkannt?«

      »Das ist ja nicht schwer.« Er machte sich los und ließ mich zwischen den Tanzenden stehen.

      Ich schaute ihm fassungslos hinterher. Mir war die Laune vergangen.

      Gerade als ich gehen wollte, tauchte er wieder auf, in jeder Hand ein Glas mit schäumender Flüssigkeit.

      »Dafür verrätst du mir deinen Namen.«

      »Anne«, sagte ich und streifte mit den Lippen seine bärtige Wange.

      Die Nacht wurde lang, und irgendwann lehnte ich an ihm. Sein Arm umfing mich, der Raum drehte sich ein wenig um mich, doch als sein Mund meinen fand, wurde ich mit einem Schlag wieder nüchtern. Ich wollte mehr als nur diesen einen Kuss.

      »Komm, ich bringe dich auf dein Zimmer.« Seine Stimme klang samtig.

      Hätte ich doch auf ein Einzelzimmer bestanden.

      »Nein. Das schaffe ich schon allein«, wehrte ich ab.

      »Nun gut. Man sieht sich demnächst.«

      Vor dem Aufzug verabschiedete er sich mit einem Kuss auf meine Stirn, dann ging er.

      Am nächsten Tag hielt ich auf der Piste vergeblich nach ihm Ausschau. Doch gestern Abend, ich traf mich erneut mit der Schwedin und ihren Freundinnen, wendete sich das Blatt zu meinen Gunsten. Ich stand an der Bar, als ich auf einmal spürte, dass ich beobachtet wurde. Paul winkte mir zu, und wir versuchten, uns über den Lärm der Musik hinweg zu verständigen. Er legte den Arm um mich, zog mich dicht an sich und flüsterte in mein Ohr.

      »Anne«, hörte ich ihn sagen, »ich will Zeit mit dir verbringen, aber hier ist es zu laut.«

      »Dann lass uns von hier verschwinden.« Ich machte einen Schritt weg von ihm und schaute in seine Augen.

      »Morgen«, sagte er und nahm meine Hand.

      Obwohl ich zuerst etwas verstimmt war, freue ich mich seither darauf, ihn zu wiederzusehen, und heute noch werde ich Lili von ihm erzählen. Auf ihr Gesicht bin ich neugierig, aber ich vermute, dass sie ohnehin davon ausgeht, dass ich inzwischen eine interessante männliche Urlaubsbekanntschaft gefunden habe.

      LILI

      Ein Schatten fällt auf die Seiten der Zeitung.

      »Hallo, Anne.«

      Irritiert sehe ich hoch und bin augenblicklich von der späten Mittagssonne geblendet. Ein kräftiger, gut gebauter Mann mit rotbraunem Bart schaut auf mich herab. Er trägt ein kariertes Hemd und eine Skihose. Den Anorak hat er lässig über seine Schulter geworfen.

      Den kenne ich doch? Ist das nicht der Schwimmer mit dem Flirt-Blick aus dem Pool? Schotte oder Ire, überlege ich weiter und setze mich so ruckartig im Liegestuhl auf, dass mein Drink überschwappt. Verlegen schließe ich die obersten beiden Knöpfe meiner Bluse. »Ich bin nicht Anne.«

      »Das ist zwar geschwindelt, aber ich hole dir trotzdem einen neuen Drink.«

      Ehe ich antworten kann, ist er auch schon verschwunden. An Land sieht er sogar noch besser aus als im Wasser.

      Suchend blicke ich mich um. Doch der Rothaarige ist nirgends zu sehen.

      Lächelnd lehne ich mich zurück und knöpfe meine Bluse wieder auf. Die Höhensonne brennt auf meiner Haut, und ich genieße die unerwartete Hitze. Es ist ein herrliches Gefühl, in eine Decke gekuschelt auf der Hotelterrasse zu sitzen und nichts anderes vorzuhaben, als in Tagträumen zu schwelgen.

      Erschrocken fahre ich hoch, als ein eiskalter Tropfen mein Dekolleté trifft. »Was?«, frage ich irritiert.

      Da steht er wieder, dieser gut aussehende Mann, und hält mir ein beschlagenes Glas entgegen.

      »Wir fangen noch mal von vorne an.« Lächelnd hebt er sein Getränk und sagt: »Cin cin.« Dann lässt er sich entspannt auf dem Liegestuhl neben mir nieder und streckt die langen Beine von sich.

      Auf einmal bin ich so gut gelaunt wie schon lange nicht mehr. Die Sonne scheint, ich habe Urlaub, bin in den Bergen, und der hinreißende Typ aus dem Schwimmbad hat mir einen Drink spendiert.

      »Jetzt erklär mir mal, warum du gestern noch Anne warst und heute nicht mehr.« Schmunzelnd betrachtet er mich. »Und diesmal bleibe bitte bei der Wahrheit. Ich durchschaue jede kleine Lüge.«

      Ich werde rot. »Das ist einfach. Weil ich auch gestern schon Lili war. Anne war ich noch nie.«