Andrea Nagele

Du darfst nicht sterben


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verrät, dass sie mir nicht glaubt.

      »Ja, es gibt auch im Winter Fotostrecken an Stränden, sogar mit richtigen Modellen«, sage ich angriffslustig.

      Störrisch schüttelt sie ihren Kopf. »Warum musst ausgerechnet du das machen, können sie nicht jemand anderen schicken?«

      »Ich muss einspringen.« Das klingt so kleinlaut, wie ich mich fühle. »Influenzazeit.«

      »Wie gut«, entgegnet Lili ungewohnt schlagfertig, »dass du gegen Grippe geimpft bist.«

      »Wenn ich zurück bin, lade ich dich ins Kino ein«, sage ich schwach.

      Sie nickt und wirft ärgerlich die Autotür hinter sich ins Schloss. Ich kann es ihr nicht verdenken.

      Die nächsten zwei Tage verlasse ich meine Wohnung nicht. Ich nutze die Zeit, um Papierstapel auf meinem Schreibtisch zu durchforsten, Rechnungen zu schreiben und auf fällige Geldüberweisungen zu reagieren. Nicht zu übersehen ist der Korb mit Schmutzwäsche, außerdem warten ein Bügelbrett mit zerknitterten Blusen und eine Geschirrspüle zum Ausräumen und Einfüllen. Vieles ist liegen geblieben, denn mein Job lässt mir kaum Zeit für den alltäglichen Kram. Die Zeitungen, für die ich arbeite, schicken mich ohne lange Vorankündigung los. Als freie Mitarbeiterin wetteifere ich schon seit dem Abschluss meiner Ausbildung mit meinen ebenfalls freiberuflich fotografierenden Kollegen. Und dieser Kampf ist nicht immer erbaulich. Er fordert enormes Durchsetzungsvermögen, das nicht selten an Rücksichtslosigkeit grenzt. Bisher sind drei meiner Fotos in großen Wettbewerben prämiert worden, und manchmal überlege ich, mich gänzlich auf das Künstlerische zu verlegen, aber mit meiner Schwester kann ich darüber nicht reden. Sie empfindet schon meine unregelmäßige Tätigkeit auf Honorarbasis als schwerwiegende wirtschaftliche Bedrohung, obwohl ich mehr verdiene als sie. Für Lili zählt nur der sichere Hafen einer festen Anstellung.

      Sobald es dunkel wird, mache ich es mir vor dem Fernseher gemütlich und fühle mich so, wie ich mir vorstelle, dass es Lili an den meisten Abenden geht. Meine Füße stecken in dicken Socken, und auf meinem Bauch glüht eine Wärmflasche. Die Serie, die ich mir ansehe, spielt in Großbritannien und handelt von der dramatischen Geschichte einer Adelsfamilie. Lilis Kaliber. Als erst die jüngste Tochter und dann auch noch der Schlosshund stirbt, verdrücke ich ein paar Tränen.

      So lümmle ich in ausgeleierten Jogginghosen und labbrigem Sweater entspannt auf dem Sofa, als es an der Tür klopft. Obwohl ich keine Lust auf Besuch habe, die Serie fesselt mich mehr, als ich es mir eingestehe, öffne ich, um gleich darauf grob in mein Vorzimmer gedrängt zu werden.

      »Was fällt euch ein, zu verschwinden? Wollt ihr mich für blöd verkaufen?«

      »Paul«, stammle ich.

      Auf seinem Bart glitzern Schneeflocken, und seine Augen funkeln. »Mehr hast du nicht zu sagen?«

      Schon sitzt er auf meinem Sofa, schiebt die Kissen beiseite und klopft neben sich auf das Polster, so als würde er hierhergehören und ich wäre sein Gast.

      Ich versuche, das Beste aus der Situation zu machen, und biete ihm ein Bier an.

      Verneinend schüttelt er den Kopf. »Ich warte auf eine Erklärung.«

      »Wir mussten los. Ich bekam einen Auftrag«, lüge ich. Paul weiß, womit ich mein Geld verdiene.

      »Vom Geheimdienst Ihrer Majestät?«

      Es ist wohl so eine Art James-Bond-Spiel, auf das ich einsteigen soll. Aber darauf möchte ich mich nicht einlassen, ich möchte, dass er verschwindet. Sofort. Also vermeide ich Blickkontakt, schaue an ihm vorbei und fixiere angestrengt ein Buch im Regal.

      Paul nimmt mein Gesicht in seine Hände und dreht es so, dass ich ihn ansehen muss. »Wie es scheint, ist es doch keine Spionage in gefährlichen fremden Ländern. Bloß eine Fotosession von deinem trauten Heim? Wie langweilig.« Sein Grinsen ist anzüglich.

      Er mustert mich eine Weile und zieht mir dann mit einem Ruck den Sweater über den Kopf.

      Er bleibt bis spät in die Nacht. Obwohl er den Grund für meine überstürzte Abreise längst erraten hat, erwähnen wir Lili mit keinem Wort.

      Als er geht, öffne ich alle Fenster, bis es eiskalt in der Wohnung ist.

      Ich beginne zu weinen und kann lange nicht aufhören.

      LILI

      Mit einem Mal steht er vor mir, eine langstielige Rose zwischen den Zähnen. Er erinnert mich an den Tiger aus der Benzinwerbung, nur sein Grinsen ist breiter.

      Julia wirft mir einen erstaunten Blick zu. »Kennst du den?« Sie stutzt. »Ist er das?« Bewunderung schwingt nun in ihren Worten mit.

      Ich spüre Hitze in meinen Wangen. Wahrscheinlich sind sie ebenso rot wie die Blüte, die von den gebleckten Zähnen gehalten wird. Mit einer verlegenen Handbewegung wehre ich meine neugierige Kollegin ab und sehe erleichtert, wie sie hinter einer der Regalreihen verschwindet. Jetzt, kurz vor dem Ende der Öffnungszeit, ist mein Arbeitsplatz, die städtische Bibliothek, fast leer.

      Eigentlich hatte ich nicht mehr damit gerechnet, Paul je wiederzusehen. Seine Überraschung ist gelungen, und mein Herz pocht wie wild.

      Seit unserer überstürzten Abreise bin ich sauer auf meine Schwester. Keine Frage, Arbeit geht vor, aber das ist es nicht. Sondern die Art, wie sie es mir beibrachte. Das nehme ich ihr übel. Zuerst die Ansage, einen ganzen Tag mit mir allein verbringen zu wollen, als müsse ich dafür dankbar sein, und dann auf einmal ihre Erklärung, nun abrupt aufbrechen zu müssen. Ganz konnte ich ihr den überraschenden Auftrag als Grund dafür nicht abnehmen.

      Wann will sie denn davon erfahren haben?

      Es hätte vor unserem gemeinsamen Frühstück auf dem Zimmer gewesen sein müssen – denn danach hat ihr Telefon nicht mehr geklingelt.

      Ich kenne Anne gut genug, um zu merken, wenn etwas nicht stimmt. Meine Schwester konnte mir während der Heimfahrt nicht in die Augen sehen und redete in einem fort auf mich ein. Erst als sie meine verschlossene Miene bemerkte, hielt sie den Mund. Doch wieder einmal war ich zu schwach, sie darauf anzusprechen, zu schwach, sie so lange zu hinterfragen, bis ihr nichts anderes übrig bliebe, als mir die Wahrheit zu sagen.

      Erst zu Hause fasste ich endlich Mut, doch ihr Handy war ausgeschaltet. Seither haben wir weder miteinander gesprochen noch uns getroffen.

      Wenn ich mich aber schon über Anne geärgert habe, so war das nichts im Vergleich zu meinem Ärger über mich selbst. Ich hatte weder Pauls Handynummer noch seine E-Mail-Adresse. Und um im Hotel anzurufen und danach zu fragen, dafür bin ich nicht die Richtige.

      Immerhin, auch er hätte sich melden können, aber zwei Wochen lang hörte ich nichts von ihm.

      Umso erstaunter bin ich jetzt über den auf eine Reaktion von mir wartenden Tiger mit der Rose im Maul. Ich bringe kein Wort heraus, frage mich nur verzweifelt, weshalb ich ausgerechnet heute meine ältesten Jeans trage. Warum das verwaschene T-Shirt unter dem beigen Pulli und warum die alten, ausgelatschten Stiefel, die ich schon letzten Winter entsorgen wollte?

      Zu allem Überfluss sind meine Haare in einen flauschigen Stoffgummi gezwängt, und Schminken war heute Morgen auch nicht drin. Ich hatte verschlafen, daher sind meine Wimpern so wenig getuscht wie meine Lippen mit Gloss bepinselt. Gerade mal unter die Dusche hatte ich es geschafft.

      Langsam öffnet Paul seine Lippen, nimmt die Rose und streckt sie mir zaghaft entgegen. »Lili, bitte verzeih mir, dass ich mich erst jetzt melde. Man hat mich auf eine Schulung geschickt. Ich bin erst seit gestern wieder in der Stadt.«

      »Du musst nichts erklären«, sage ich und denke dabei, wie prächtig doch das Rot der duftenden Knospe mit dem bronzenen Farbton seines Vollbartes harmoniert.

      Kurz blitzt Julias akkurat geschnittener Haarschopf über dem Bücherregal auf. Sie muss die Leiter hochgeklettert sein, um uns besser beobachten zu können. Ein Tiger mit Rose im Maul ist eben ungewöhnlich.

      »Lili?«

      Wie beschämt