Barbara Edelmann

Tod in Rothenburg


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die jemand liegen gelassen hatte. Gelegentlich half er sogar ihrer Mutter beim Bedienen, wenn der Laden von Gästen überquoll. Seit seiner Pensionierung wusste er mit seiner Zeit nicht so recht etwas anzufangen, denn er war Kriminologe aus Leidenschaft und vermisste die Arbeit sehr. Bei jedem neuen Fall in der näheren Umgebung bot er Dodo seine Hilfe an und war schwerer abzuschütteln als ein an der Schuhsohle klebender Kaugummi. Aber er war immer hilfsbereit und hatte die besten Manieren, die Dodo je erlebt hatte. Man musste ihn mögen. Mehr oder weniger.

      »Heute Morgen gegen sechs Uhr dreißig habe ich einen kleinen Spaziergang unternommen und bin dabei zufällig in der Galgengasse gelandet, wo gerade die Spurensicherung abzog«, erklärte Geißler nun. »Ziemlich spät übrigens. Zu meiner Zeit wären die schneller fertig gewesen.«

      »Zufällig. Klar«, wiederholte Dodo ungerührt. »Früher war ohnehin alles besser. Auch meine Figur. Und mit ›sechs Uhr dreißig‹ meinen Sie vermutlich kurz nach Mitternacht, so wie ich Sie kennen und schätzen gelernt habe.« Geißler errötete für den Bruchteil einer Sekunde, sagte aber nichts.

      »Können Sie uns schon Ihre Ermittlungsergebnisse mitteilen?«, bat Kurti todernst. »Dann fordere ich umgehend einen Haftbefehl an.«

      »In achtzig Prozent aller Fälle ist es jemand aus dem nahen Bekannten- oder Verwandtenkreis.« Geißler musterte ihn streng. »Haben Sie den bereits überprüft?«

      »Selbstverständlich.« Kurti grinste. »Wir benützen seit Neuestem einen Raketenrucksack, der uns zusätzliche Superkräfte verleiht, und sind schneller als der Schall. Hat man Ihnen das noch gar nicht zugetragen?«

      »Sie sind neu.« Geißler musterte Kurti von oben bis unten. »Ach ja, Sie kommen vom Rauschgiftdezernat. Sind da alle so vorlaut?«

      »Wir waren bis eben in einer Besprechung, Herr Geißler«, warf sich Dodo in die Bresche. »Und wir sind im Druck.«

      »Zu meiner Zeit fuhr man ganz altmodisch zu den Leuten nach Hause«, sagte Geißler von oben herab. »Man verhörte sie gründlich und verhaftete sie anschließend. Da war nichts mit Kuscheln oder Stuhlkreis. Heute werden die Verbrecher mit Wattebällchen beworfen und lachen sich kaputt.«

      »Ja, die gute alte Zeit.« Kurti zwinkerte ihm zu.

      »Ist doch wahr. Früher musste man sich keine richterliche Erlaubnis besorgen, um ein Chatprotokoll bei WhatsApp überprüfen zu können. Da gab es diese Dinger gar nicht, diese vermaledeiten Mobiltelefone.«

      »›Chatprotokoll‹?« Dodo war hellhörig geworden. »Herr Geißler, haben Sie auf dem Revier einen Maulwurf?«

      »Sie sind bei der Kripo, finden Sie es selbst heraus.« Geißler schlürfte mit gespitzten Lippen seinen mittlerweile vermutlich kalten Cappuccino und setzte sein Pokerface wieder auf.

      »Hier, bitte. Wolfgang, hören Sie auf, meine Tochter zu ärgern.« Unbemerkt war Brigitte Haug am Tisch aufgetaucht. Sie platzierte eine dampfende Tasse Kaffee vor Kurti und stellte vor ihrer Tochter mit einem Knall einen Kuchenteller mit einem riesigen Stück Käsesahnetorte ab.

      »Sandra kannten hier übrigens viele.« Ächzend nahm sie neben Kurti Platz auf der Bank.

      »Welche Sandra?«, wiederholte Dodo scheinheilig.

      »Tun wir doch einfach so, als hätte ich es in der Zeitung gelesen«, schlug ihre Mutter gelassen vor. »Rothenburg ist keine sonderlich große Stadt, und Neuigkeiten verbreiten sich in Windeseile. Die Dame hat auch bei mir schon einmal mit Wilbold gefrühstückt. Er war verrückt nach ihr, das wussten wir alle. Pikante Geschichte, denn eigentlich war er anderweitig liiert.«

      »Liiert?«, wiederholte Dodo interessiert.

      »In den letzten zehn Jahren hat man ihn eigentlich immer in Begleitung derselben Frau gesehen«, mischte Geißler sich ein. »Daniela heißt sie, so viel konnte ich schon in Erfahrung bringen.«

      »In Erfahrung bringen …« Kurti schmunzelte. »Natürlich. Und weiter?«

      »Ein paar Jahre nach dem Tod seiner Frau lernte Wilbold Daniela kennen«, fuhr Geißler fort. »Sie war damals Mitte dreißig, er bereits Ende fünfzig. Aber so merkwürdig es klingt: Sie scheint ihn aufrichtig gemocht zu haben. Die beiden fuhren auch regelmäßig gemeinsam in Urlaub und …«

      »Sie begleitete ihn überall hin«, unterbrach ihn Brigitte, »und wir alle haben gewartet, dass demnächst eine Verlobungsanzeige in der Zeitung erscheint. Immerhin ist Wilbold nicht mehr der Jüngste und so gar nicht der Typ für ein Bratkartoffelverhältnis.«

      »Bratkartoffeln.« Dodo leckte sich die Lippen. »Das wäre jetzt was.«

      »Es liest doch niemand mehr Zeitung, Brigitte«, erklärte Geißler. »Das einstige Volk der Dichter und Denker knallt heutzutage mit dem Kopf an Glasschiebetüren, weil es nur noch auf seine Handys starrt. Neulich hätte ich beinahe eine junge Frau überfahren, die ist schnurstracks über die Straße gelaufen, ohne auf den Verkehr zu achten.«

      Brigitte tätschelte ihm beruhigend den Arm. »Wie gesagt, alle haben gewartet, dass Wilbold Nägel mit Köpfen macht«, fuhr sie fort. »Wohl niemand mehr als Daniela. Und dann, seit ungefähr einem halben Jahr, sah man ihn immer öfter mit dieser grell geschminkten Königin der Nacht. Die wohnte ja noch nicht lange in Rothenburg, war aber ständig in der Stadt unterwegs.«

      »Mama, für dich heißt ›nicht lange hier wohnen‹ ›noch nicht seit mindestens hundert Jahren‹«, widersprach ihr Dodo. »Wir wissen, dass sie vor zwei Jahren hierhergezogen ist.«

      »Die hat nichts anbrennen lassen«, behauptete Brigitte.

      »Wir leben im 21. Jahrhundert, Mama«, seufzte Dodo. »Frauen dürfen tun, was sie wollen.«

      »Dann sollen sie aber nicht jammern, wenn sie nicht geheiratet werden.« Brigitte warf ihrer Tochter einen scharfen Blick zu. »Wer viel wechselt, wird bald zu Kleingeld und muss sich nachts allein in dunklen Kneipen herumtreiben. Auf zu hohen Absätzen. Und davon kriegt man Hammerzehen.«

      »Zu hohe Absätze gibt es nicht, Mama.« Dodo verdrehte die Augen. »Also, diese Sandra ließ nichts anbrennen. Wie kommst du darauf? Wart ihr im selben Kochkurs?« Sie grinste boshaft.

      »Du weißt ganz genau, was ich meine. Innerhalb dieser zwei Jahre hat diese Sandra beinahe denselben Bekanntheitsgrad erreicht wie die Rothenburger Rathausuhr«, antwortete Brigitte mit sarkastischem Unterton. »Meine Freundinnen und ich haben uns häufig gefragt, wann die ersten Nachtwächtertouren zu ihrer Wohnung veranstaltet werden. In den hiesigen Hotels war sie ein oft gesehener Gast. Offenbar traf sie sich dort mit ihren Internetbekanntschaften: älteren Männern mit Luxuskarossen. Ich an ihrer Stelle wäre ja weiter weggefahren mit den Herren. Jedenfalls stand sie wohl auf Zimmerservice.«

      »Eventuell wollte sie nur nicht in ihrer eigenen Wohnung hinter den Typen herwischen. Putzt eben nicht jeder so begeistert wie ein Tatortreiniger, Mama.«

      Brigitte überhörte die Stichelei. »Auf alle Fälle hat sich diese Sandra vor einigen Monaten Wilbold geangelt, der von diesem Moment an überall nur noch mit ihr im Schlepptau auftauchte. Die arme Daniela war am Boden zerstört.«

      »Kennst du sie näher?«, wollte Dodo wissen.

      Brigitte schüttelte den Kopf. »Nur vom Sehen. Aber zwei meiner Stammgäste arbeiten in derselben Firma wie sie, die haben davon erzählt. Und im Internet hat sie öfter Fotos von sich und Wilbold gepostet.«

      »Woher weißt du das denn?«, wollte Dodo wissen.

      »Sie wurde mir von Facebook als Freundin vorgeschlagen«, antwortete Brigitte ungerührt. »Da habe ich mich eben auf ihrem Profil mal umgesehen.«

      »Klar doch«, sagte Dodo. »Weil dir nichts ferner liegt als Neugierde.«

      »Genau.« Brigitte nickte. »Verstehen kann ich nicht, warum Wilbold auf diese angemalte Nymphe reingefallen ist, er und Daniela waren letztes Jahr sogar in der Karibik. Und Daniela ist ja auch recht hübsch. Gepflegt vom Scheitel bis zur Sohle, nur ein bisschen üppig eben.«

      »Also