Susan Hill

Das Gemälde


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Licht anschaltete und das Bild betrachtete. Natürlich hatte sich nichts geändert. Der Mann ertrank nicht, wenngleich er mich nach wie vor anschaute, immer noch flehend, und ich hatte das Gefühl, er sei dargestellt worden, während er den beiden Männern, die ihn festhielten, zu entkommen versuchte.

      Ich ging wieder zu Bett.

      Und das war es dann, für lange Zeit. Mehr geschah nicht. Das Bild stand monatelang an das Bücherregal gelehnt, bis ich den Platz dafür fand, wo du es jetzt hängen siehst.

      Ich träumte nicht wieder davon. Aber es ließ mich niemals los, seine eindringliche Präsenz verminderte sich nie, als wären die Geister all dieser Menschen in dieser unheimlich beleuchteten, gekünstelten Szenerie zugegen, hier bei mir in diesem Zimmer.

      Einige Jahre vergingen. Das Bild verlor nichts von seiner seltsamen Kraft, aber das Alltagsleben geht natürlich weiter, und ich gewöhnte mich daran. Ich betrachtete es jedoch oft, erforschte die Gesichter, die Schatten, die Gebäude, das dunkle, gekräuselte Wasser des Canal Grande, und ich schwor mir ebenfalls, eines Tages nach Venedig zu reisen. Ich war nie ein begeisterter Reisender, wie du weißt; ich liebe die englische Landschaft zu sehr und hatte nie das Bedürfnis, mich während der Ferien weit darüber hinauszuwagen. Außerdem war ich in jener Zeit stark mit dem Unterrichten beschäftigt, übernahm mehr und mehr Pflichten innerhalb des College, verfasste und veröffentlichte eine Reihe von Büchern und fuhr damit fort, Bilder zu kaufen und zu verkaufen, obgleich meine Zeit dafür beschränkt war.

      Während dieser Zeit geschah bezüglich des Bildes nur eine merkwürdige Sache. Brammer, ein alter Freund, kam zu Besuch. Ich hatte ihn seit einigen Jahren nicht mehr gesehen, und wir hatten vieles zu bereden, aber irgendwann, kurz nach seiner Ankunft, während ich nicht im Zimmer war, schaute er sich die Bilder an. Als ich zurückkehrte, stand er vor dem venezianischen Gemälde und beäugte es genauer.

      »Wie bist du zu dem hier gekommen, Theo?«

      »Oh, bei einer Auktion vor einigen Jahren. Warum?«

      »Es ist ziemlich außergewöhnlich. Wenn ich nicht …«

      Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

      Ich stellte mich neben ihn. »Was ist?«

      »Du kennst dich doch mit diesen Dingen aus. Wann wurde es deiner Meinung nach gemalt?«

      »Es stammt aus dem späten achtzehnten Jahrhundert.«

      Wieder schüttelte er den Kopf. »Dann verstehe ich es nicht. Siehst du, dieser Mann hier …« Er deutete auf eine Gestalt in der ersten Gondel. »Ich … ich kenne – kannte ihn. Das heißt, er sieht jemandem, den ich gut kannte, zum Verwechseln ähnlich. Wir waren als junge Männer befreundet. Natürlich kann er das nicht sein … aber alles – wie er den Kopf hält, sein Ausdruck … das ist ziemlich gespenstisch.«

      »Bei den Milliarden von Menschen auf dieser Welt, die alle nur zwei Augen, eine Nase und einen Mund haben, finde ich es noch bemerkenswerter, dass es nicht mehr identische gibt.«

      Aber Brammer hörte mir gar nicht zu. Er war zu sehr damit beschäftigt, das Bild zu betrachten und dieses eine Gesicht zu studieren. Ich brauchte eine Weile, ihn davon fortzuziehen und auf die Themen unserer vorherigen Unterhaltung zu lenken, und während der nächsten vierundzwanzig Stunden kehrte er mehrfach zu dem Bild zurück und stand dort, mit einem Ausdruck von Besorgnis und Unglauben im Gesicht, und schüttelte von Zeit zu Zeit den Kopf.

      Weitere Vorkommnisse gab es nicht, und nach einer Weile vergaß ich Brammers seltsame Entdeckung zwar nicht ganz, dachte aber nur noch selten daran.

      Wäre ich nicht einige Jahre später zum Thema eines Artikels in einer eher allgemeinen als akademischen Zeitschrift geworden, es hätte sich vielleicht nichts mehr getan, und die Geschichte, wie sie sich bis dahin zugetragen hatte, wäre versandet.

      Ich hatte eine lange Arbeit über Chaucer abgeschlossen, und es stand ein bedeutender Jahrestag an, zu dem auch eine Ausstellung im Britischen Museum gehörte. Auch war ein wichtiges Manuskript entdeckt worden, das sich auf Chaucers Leben bezog, von dem wir bisher nur wenig gewusst hatten. Die allgemeine Presse zeigte Interesse daran, und meinem geliebten Dichter wurde eine erfreuliche Aufmerksamkeit zuteil. Ich war natürlich entzückt. Ich hatte mir schon lange gewünscht, das Vergnügen, das sein Werk bietet, mit einer breiteren Öffentlichkeit zu teilen, und mein Verleger war begeistert, dass ich mich bereit erklärte, hier und da Interviews zu geben.

      Einer der Interviewer brachte einen Fotografen mit, der mehrere Aufnahmen in meinen Räumen machte. Wenn es dir nichts ausmacht, an die Kommode zu gehen und die zweite Schublade zu öffnen, könntest du da den abgehefteten Zeitschriftenartikel finden.

      3

      Theo war ein akribischer Mensch – alles war abgeheftet und geordnet. Wenn ich zu Tutorien herkam, war ich immer beeindruckt gewesen von der vorbildlichen Ordnung auf seinem Schreibtisch im Vergleich zu dem der meisten anderen Fellows – ganz zu schweigen von meinem. Es war der Schlüssel zu diesem Mann. Er besaß einen geordneten Verstand. In einem anderen Leben hätte er Anwalt werden können.

      Der Ausschnitt lag genau am angegebenen Platz. Es war ein langer Artikel über Theo, Chaucer, die Ausstellung und die neue Entdeckung, sehr fundiert und informativ, und das Foto von Theo, das eine ganze Seite einnahm, war nicht nur ein ausgezeichnetes Porträt von ihm, wie er vor dreißig Jahren ausgesehen hatte, sondern ein eigenständiges künstlerisches Werk. Theo saß auf einem Lehnstuhl, einen Bücherstapel auf einem kleinen Tisch neben sich, die Brille obendrauf. Die Sonne fiel schräg durch das hohe Fenster auf ihn und beleuchtete die ganze Szene recht dramatisch.

      »Das ist ein gutes Foto, Theo.«

      »Schau genau hin – schau, wohin die Sonne fällt.«

      Sie fiel auf das venezianische Bild, beleuchtete es intensiv und in einer seltsamen Harmonie aus hell und dunkel. Es schien viel mehr zu sein als nur ein Hintergrund.

      »Außergewöhnlich.«

      »Ja. Ich gestehe, dass ich ziemlich verblüfft war, als ich die Aufnahme sah. Vermutlich hatte ich mich mittlerweile an das Bild gewöhnt und hatte keine Ahnung, dass es eine solche Präsenz im Raum hatte.«

      Ich schaute mich um. Jetzt war das Bild halb verborgen, halb im Schatten, und wirkte unbedeutend, zog keinerlei Aufmerksamkeit auf sich. Die Gestalten waren ein wenig steif und distanziert, das Licht auf dem gekräuselten Wasser stumpf. Wie jemand aus einer Gruppe, der so zurückhaltend und reizlos ist, dass er oder sie unbemerkt mit dem Hintergrund verschmilzt. Was ich da in der Zeitschrift sah, war fast ein anderes Gemälde, nicht vom Inhalt, der natürlich derselbe war, aber von – ich würde beinahe sagen – der Einstellung.

      »Merkwürdig, nicht wahr?« Theo betrachtete mich eindringlich.

      »Hat der Fotograf eine Bemerkung zu dem Gemälde gemacht? Hat er es absichtlich hinter dir aufgehängt und es auf besondere Weise ausgeleuchtet?«

      »Nein. Es wurde nie erwähnt. Er fuhrwerkte ein wenig mit dem Büchertisch herum, erinnere ich mich … stapelte die Bücher erst gleichmäßig, dann ungleichmäßig auf … und er bat mich, eine andere Haltung einzunehmen. Das war alles. Ich kann mich erinnern, dass ich, als ich die Ergebnisse sah – und es waren natürlich eine Menge Aufnahmen –, sehr überrascht war. Ich hatte nicht mal bemerkt, dass das Gemälde da war. In der Tat …« Er hielt inne.

      »Ja?«

      Er schüttelte den Kopf. »Es ist etwas, das mir ehrlich gesagt seitdem im Kopf herumgeht, vor allem angesichts … nachfolgender Ereignisse.«

      »Was denn?«

      Aber er antwortete nicht. Ich wartete. Seine Augen waren geschlossen, und er saß reglos da. Ich erkannte, dass der Abend ihn erschöpft hatte, und nachdem ich noch ein bisschen länger in der Stille dieser Räume gewartet hatte, stand ich auf und ging, achtete darauf, beim Verlassen der Wohnung kein Geräusch zu machen, stieg die dunkle Treppe hinunter und trat hinaus auf den Hof.

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