Heinz-Joachim Simon

Die Tränen des Kardinals


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      Marcello legte ihr tröstend den Arm um die Schulter. Sie holte ihr Taschentuch aus der Schürze und schnäuzte sich. Sie war nur ein kleines, schutzbedürftiges Mädchen in einer fremden Stadt.

      „Ich wollte ohnehin nachher zu seiner Wohnung gehen“, schluchzte sie.

      „Dort wirst du ihn nicht antreffen. Wir fanden seine Wohnung arg zerrupft und leer vor.“

      „Was ist nur los mit ihm?“ Hilflos sah sie uns an.

      „Überleg mal, wo könnte er sich versteckt haben?“

      „Nun, vielleicht bei seinem Freund Romano Lupo am Campo de’ Fiori. Der hat dort eine Pizzeria. Glaubt ihr, dass ihm etwas passiert ist?“

      Wir brachten es nicht fertig ihr zu sagen, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch war und verabschiedeten uns von ihr. Marcello versprach ihr, sie in der Bar anzurufen, sollten wir etwas erfahren.

      Am nächsten Tag, gleich morgens, fuhren wir zum Campo de’ Fiori. Es war gerade Markt. Der Platz war so bunt wie ein Blumenstrauß. Ein süßlicher Geruch hing in der Luft. Aber es wurden nicht nur Blumen angeboten, sondern man konnte alles kaufen, was man zum Leben brauchte. Fleisch, Gemüse, Gewürze, Käse, aber auch Kleider, Schuhe und Mäntel. Es gab zwei Pizzerien. Wir wählten die mit den grün lackierten Tischen. Die Pizzeria war gut besucht. Zwei Männer standen am Ofen, zwei kellnerten. Sie sagten uns, dass der Chef noch nicht heruntergekommen sei, was selten vorkäme.

      „Er hat gestern schon über eine Erkältung geklagt“, rief einer der Kellner herüber.

      „Was wollt ihr denn von ihm?“

      Wir ließen die Frage unbeantwortet und liefen durch das Lokal, an der Küche vorbei die Treppe hoch. Die Tür zur Wohnung war nur angelehnt. Nie ein gutes Zeichen. Wir gingen hinein. Der gleiche Anblick wie in Domenicos Wohnung. Umgestürzte Möbel, aufgerissene Schränke, offene Schubladen. Eine Menge Papier lag auf dem Fußboden. Nur eins war anders. Ganz anders.

      Inmitten des Durcheinanders lag mit ausgebreiteten Armen ein Mann. Kopfschuss. Die Augen weit offen. Sein weißes Hemd war blutgetränkt. Er konnte uns nichts mehr sagen. Marcello betastete seinen Hals.

      „Tot.“

      Es war nicht Domenico. Ich tippte auf Romano Lupo. Ein Fenster stand sperrangelweit offen. Sah verdammt danach aus, als wenn jemand Reißaus genommen hatte. Ich sah aus dem Fenster. Der Markt war nun noch voller geworden. Selbst wenn Domenico noch dort unten weilte, würden wir ihn in dem Gewimmel kaum ausmachen können. Ich ging in den Flur und rief nach unten, dass mal jemand heraufkommen solle.

      Ein untersetzter junger Mann kam herauf.

      „Lucius. Ich bin Romanos jüngerer Bruder“, stellte er sich vor.

      Ich nickte mit dem Kopf, dass er ins Wohnzimmer gehen solle. Er tat es zögerlich und schrie dann auf. Er beugte sich zur Leiche hinunter und nahm den blutigen Kopf und wiegte ihn in seinen Armen.

      „Romano, Romano!“, jammerte er.

      Nun kamen noch andere vom Personal herauf und stimmten in das Wehgeschrei ein. Ich lief hinunter in die Pizzeria, nahm das Telefon vom Tresen und rief Montebello an und berichtete ihm von dem Schlamassel.

      „Kann sein, dass unser Pizzabäcker die Sache mit unserem Freund ausgeheckt hat. Domenico konnte den Cantonas vielleicht ein zweites Mal entkommen.“

      „Wenn es die Cantonas sind“, sagte Montebello nüchtern. „Eine Visitenkarte haben die wohl nicht hinterlassen.“

      „Nein“, gab ich zu. „Aber wer sollte es sonst sein?“

      „Wenn die Sizilianer den Romano Lupo umgebracht haben, dann stecken die tatsächlich hinter dem Dokumentenraub. Du bist in höchster Gefahr.“

      „So wird es wohl sein.“

      „Gut. Ich komme mit Streife und Krankenwagen zu euch. In fünfzehn Minuten sind wir da.“

      Ich ging in die Wohnung zurück.

      „Kennt ihr Domenico Casardi?“, fragte ich die Runde und scheuchte sie von dem Toten weg. Dies war ein Tatort. Sie zerstörten eventuelle Spuren.

      Lucius nickte bekümmert.

      „Ja. Natürlich. Er ist oft hier.“

      „Gestern auch?“

      Wieder ein Kopfnicken. „Er hat bei uns übernachtet.“

      „Gab es etwas Besonderes?“

      „Sie hatten ein großes Ding laufen, aber Romano hat nicht herausgelassen, was es war. Er sagte nur einmal, wenn es klappen würde, dann hätten wir ein für alle Mal ausgesorgt.“

      „Tja, nun hat er ein für alle Mal ausgesorgt“, warf Marcello düster ein.

      „Wer wohnt noch in diesem Haus?“

      „Mein Vater, meine Mutter, meine zwei Brüder und natürlich noch Romanos Frau mit den zwei Kindern.“

      „Und ihr habt nichts gehört?“

      Sie schüttelten alle den Kopf.

      „Schalldämpfer!“, mutmaßte Marcello.

      „Wohin könnte Domenico geflohen sein?“

      Sie sahen sich ratlos an.

      „Domenico hat ihm sicher nichts getan“, beteuerte Lucius.

      „Das vermute ich auch nicht. Es geht wohl um das große Ding, das zu groß für sie war.“

      Ein alter Mann trat ein und stürzte schreiend zur Leiche. Montebello traf mit der Spurensicherung ein. Er fluchte, als er die vielen Menschen in der Wohnung sah und schickte alle hinaus. Der Vater war ein harter Brocken. Er hatte zwar ein tränennasses Gesicht, aber tat, was getan werden musste. Er war der Typ „in vielen Gefechten gestählter Unteroffizier“. Er ließ das Restaurant schließen. Die noch anwesenden Gäste bat er zu gehen und erließ ihnen die Bezahlung. Keiner der Gäste protestierte. Ich wiederholte meine Frage, wo Domenico sein konnte. Der Alte strich sich nachdenklich über seinen Schnurrbart.

      „Wir und die Casardi haben einmal hinter den Caracalla-Thermen gewohnt. Meine und Casardis Kinder haben oft hinter dem Grabmal der Caecilia Metella gespielt. Die Kinder hatten dort unterhalb des Grabmals eine kleine Höhle entdeckt, in der sie sich oft aufgehalten haben. Vielleicht ist er dorthin.“

      Es war immerhin eine Möglichkeit. Ich informierte Montebello und wir ließen uns mit dem Taxi zur Via Appia Antica fahren. Wir baten den Taxifahrer zu warten. Er nickte vergnügt und deutete auf sein Tachometer. Obwohl es nur eine Ruine war, konnte man gut nachvollziehen, wie gewaltig das Grabmal einst gewesen war. Im Mittelalter war es zu einer Festung ausgebaut worden. Bald fanden wir unterhalb des Grabmals die geschilderte Höhle. Einst mochte es ein Raum für die Trauernden gewesen sein. Dort lag Domenico. Er hatte die Augen geschlossen. Auf seinem weißen Hemd war ein großer Blutfleck. Ich prüfte seine Halsschlagader. Er hatte noch Puls. Marcello öffnete sein Hemd.

      „Scheiße!“, sagte er und deutete auf ein kleines, böse aussehendes Loch oberhalb der Lunge. Domenico öffnete die Augen. Sie weiteten sich vor Entsetzen.

      „Nein. Wir kommen nicht von den Cantonas“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Sein Atem beruhigte sich.

      „Hast du das Dokument noch?“

      Er schüttelte den Kopf.

      „Nein. Romano hatte es ihnen übergeben, aber er forderte mehr Geld als ursprünglich vereinbart. Sie haben uns ausgelacht. Er hat sich auf sie gestürzt und da haben sie ihn … kaltblütig niedergeschossen. In dem Durcheinander bin ich zum Fenster hinaus. Sie haben mir noch eine Kugel hinterhergeschickt. Was ist mit Romano?“

      Seine Stimme war so leise geworden, dass man ihn kaum verstehen konnte.

      „Los, Marcello! Lauf zum Taxi. Sie sollen uns einen Krankenwagen schicken.“

      Marcello