Eltern – nur in jenem anderen, das hinzukommt.
sophia Und was uns verschiedener Ausdruck dünkt für Liebe, ist doch nur Ausdruck für etwas, das neben und mit der Liebe geht. Geschlechtlicher Wille ist nicht Liebe, wie Mutterschaft nicht Liebe ist.
agathon Und Freundschaft? Das Suchen nach Geist?
vincent Hast du jemals empfunden, wie du den Freund inniger und stärker liebtest, nachdem ihr neue Erkenntnis gefunden hattet, so weißt du, daß Freundschaft nicht Liebe ist – Liebe kann sich nicht selbst steigern. Doch suchen nach Erkenntnis kann ich, will ich nur mit einem, den ich auch lieben könnte, nur einen, den ich liebe, kann ich Freund nennen. Ehe, Freundschaft, Mutterschaft – sie alle können in Reinheit nur dort bestehen, wo Liebe ist – doch sie sind nicht selbst Liebe.
agathon Du entkleidest die Liebe der persönlichen Beziehungen. Deine Liebe scheint mir Nächstenliebe, Menschenliebe.
vincent Nichts hat Nächstenliebe gemein mit der Liebe zu dem, der uns am nächsten ist, nichts Liebe zu einem, zu unserem Menschen mit Menschenliebe. Diese ruht sonder Begehren in unserer Brust, als Ziel wohl, doch nicht als Sehnen. Liebe aber ist immer ein Begehren.
sophia Und kein Zwiespalt scheint es mir, daß Liebe immer gleiche Formen sucht. Wie sollte ein Ewiges, Unveränderliches sich stets verändert zeigen! Der Augenblick höchster Freundschaft verkörpert sich dir und dem Freunde als Kuß. Hier gibt es nur Grade, nicht Unterschiede. Was bleibt der Mutter, die den Sohn aus langer Gefahr befreit sieht, als ein Kuß, dem übervollen, lange gequälten Herzen endlich Luft zu machen! – Was Gatten bei einem Abschied, der zur ewigen Trennung werden kann? Kein Wort, – kein Blick der brennenden Augen – aus einem Kusse wächst das letzte Lebewohl.
agathon Und gibt es in der Liebe Rechte? Ist das Hausrecht der Gatten, die Autorität der Mutter, ja das Recht des Freundes auf Eifersucht – wenn es ein solches gibt – in der Ehe, der Mutterschaft, der Freundschaft begründet, oder in der Liebe?
vincent Liebe hat kein Hausrecht. Es steht nicht geschrieben: Du sollst nicht lieben das Weib deines Nächsten. Sondern: Du sollst nicht begehren … Die Ehe gibt Rechte, nicht die Liebe.
sophia Wenn die Mutter befiehlt, so befiehlt sie als Mutter, nicht als Liebende. Sie kann strafen, doch nicht, indem sie Liebe entzieht – wie könnte sie auch aufhören zu lieben! Nein, indem sie ihre Liebe in sich verschließt, sie der Äußerung beraubt, bis ihr Sohn wieder seiner Mutter wert geworden.
agathon Und die Eifersucht? Haben wir ein Recht darauf, andern die Gegenwart, den Besitz des geliebten Wesens zu neiden?
vincent Dies ist nicht Eifersucht. Läßt du das häßliche Wort »Neid« fort – ja, dann dürfen wir uns nach der Nähe des Geliebten sehnen – dies ist ja ein Teil des Begehrens, von dem wir sprachen, die Sehnsucht nach der körperlichen Nähe. Eifersucht ist Mißtrauen.
sophia Hier müssen wir, glaube ich, zuerst von dem sprechen, was einziges Recht der Liebe ist: die Äußerung. Es gibt keine Liebe, die nicht stets getrieben würde, sichtbar zu werden. Andere Einflüsse mögen für den Augenblick daran hindern – die Liebe aber sucht immer, sich dem Geliebten zu zeigen.
agathon Doch darf ich sie in diesem Triebe unterstützen? Es fragt sich, ob ich ihr nicht verwehren muß, sich zu äußern. Ist hier nicht die Gefahr der Verwöhnung?
sophia Willst du ihr dies verwehren, ihr dies einzige Recht nehmen, so stirbt sie.
vincent Aber wie könntest du, Agathon, der Liebe dies verwehren wollen, da du selbst liebst! Was ist Verwöhnung? Daß man Kostbares nicht mehr für kostbar nimmt, früher Begehrtes nicht mehr begehrt. Dem Hungernden aber wird keine Speise zum Überdruß.
agathon Unerwiderte Liebe aber – muß man sie nicht zum Schweigen verurteilen?
vincent Es gibt unerwiderte Verliebtheit, Agathon — gibt es unerwiderte Liebe? …
sophia Und, Agathon – hier könnte es Eifersucht geben – wenn wir die Äußerung unterdrückten. Das Schweigen, das nicht lebendig ist – erzwungenes, abgerungenes Schweigen – erzeugt Mißtrauen. »Du liebst mich doch, öffne doch Arme und Herz!« … Aber trotzig, mit verschränkten Armen, steht der Liebende da. Wie sollte Liebe im schwachen Menschen nicht irre werden, da sie ihr einziges Recht nicht erfüllt sieht! Wo ihr frevelnde Willkür dies Recht nahm, da wankt das Vertrauen, da erst wird Eifersucht möglich.
agathon Achte wohl, Vincent, daß du mir mit dem Recht, Liebe nicht zu äußern, nicht das Werben raubst. Wozu müßte ich dann werben – etwa um einen, den ich schon besitze, um dessen Liebe ich schon weiß?
vincent Du wirbst nicht um Liebe, sondern um Äußerung von Liebe. Ja, um Bereitschaft zur Äußerung. Indem du wirbst, kämpfst du gegen zwei Gegner der Liebe: Indolenz und die ihr entgegengestellte Furcht vor Verwöhnung.
agathon Kann man viele lieben?
vincent Viele oder mehr als einen – wo finde ich hier den Unterschied? Wo die Grenze: diesen nicht mehr? Du magst viele lieben. Im Augenblick der Äußerung aber liebst du nur Einen.
agathon Dies mag der Grund sein, warum es im Gespräch keine Liebe gibt. Wo ich liebe, da denke ich nur mich und das geliebte Wesen. Im Gespräch muß ich die Welt denken können.
vincent Sage statt: wo ich liebe – wo ich meine Liebe äußere, so stimme ich dir bei. Liebe ist ein Immanentes, du liebst einmal – und immer –
agathon Wie meinst du dieses: Immer? Daß Liebe ewig sei? Oder daß es nicht möglich ist, einen, den man liebt, manchmal nicht zu lieben?
sophia Beides scheint mir wahr. Liebe ist ein Kontinuum. Ich muß nicht immer den Geliebten denken. Doch wenn ich ihn denke – so immer in Liebe. Und: Liebe ist ewig. Was sollte stark genug sein, dieses Sein zu sprengen?
agathon Wenn ich dazu käme, zwei Menschen zu lieben, die einander hassen.
sophia Du kannst niemals dazu kommen, zwei Menschen zu lieben, die einander hassen. Wenn du diese Menschen liebst, so lieben sie dich wieder und der Haß müßte weichen vor diesem Einen, Gemeinsamen, Großen. Weicht er nicht, dann war irgendwo Liebe nicht da.
agathon Und wie, wenn Liebe zu einem Dritten erst diesen Haß erzeugte?
vincent Es ist ja nicht möglich, Agathon. Das wäre ja keine Liebe. Liebe erzeugt doch Gutes. Nicht Haß, der gegen einen Guten immer ein Böses ist.
sophia Liebe bessert. Wer Liebe besitzt, muß besser werden. Hier sind alle Liebenden – Mütter und Freunde. Denn sie wollen den Geliebten wachsen sehen.
agathon Dann können nur gute Menschen lieben, Sophia.
sophia Nicht so – wer ist gut? Aber wahrlich – nur solche können lieben, die gut sein wollen.
agathon Und auch wollen, daß der Geliebte gut sei.
vincent Das ist dasselbe.
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Metaphysik der Jugend
1913/14
~Das Gespräch~
Wo bist du, Jugendliches! das immer mich
Zur Stunde weckt des Morgens, wo bist du, Licht?
Hölderlin
I
Täglich nutzen wir ungemessene Kräfte wie die Schlafenden. Was wir tun und denken ist erfüllt vom Sein der Väter und Ahnen. Eine unbegriffene Symbolik verknechtet uns ohne Feierlichkeit. – Manchmal erinnern wir uns erwachend eines Traumes. So erleuchten selten Hellsichten die Trümmerhaufen unserer Kraft, an denen die Zeit vorüberflog. Wir waren Geist gewohnt wie den Herzschlag, durch den wir Lasten heben und verdauen.
Jedes Gespräches Inhalt ist Erkenntnis der Vergangenheit als unserer Jugend und Grauen vor den geistigen Massen der Trümmerfelder. Wir sahen noch