Hanna Nolden

Let´s play love: Leon


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Mutter meinte sofort. Es trug den Titel »Wie es weitergeht oder eben nicht«. Vany bekam Magenschmerzen. Wegrennen erschien ihr plötzlich eine angemessene Reaktion. Aber ihre Mutter beobachtete sie, also spielte sie das Video ab. Es gab bloß einen schwarzen Hintergrund und Deckx´ Stimme klang fremd und ausdruckslos mit einem Hauch Frank Decker darin. Vany hörte ihm zu und hätte heulen mögen, doch sie riss sich zusammen.

      »Hallo, meine lieben Zuschauer. Ich wende mich heute an euch aus einem nicht so schönen Grund. Heute ist mir etwas passiert, von dem ich gedacht habe, dass es mir nie passieren könnte. Ich werde nicht näher darauf eingehen, aber es hat mich geschockt. Ich muss viel nachdenken und im Moment habe ich keine Lust, Videos hochzuladen. Alle Projekte liegen damit erst einmal auf Eis. Bitte hakt nicht nach. Drängt mich nicht. Habt Verständnis, auch wenn ich euch nicht näher erkläre, was geschehen ist. Bis dann, euer Deckx.«

      Vanys Gedanken überschlugen sich. Vielleicht war das Video doch nicht so Frank-Decker-like. Immerhin hatte er sie nicht geoutet. Er hatte nicht gesagt: »Die bekloppte Vany96 ist bei mir im Laden aufgetaucht, hat mich angebaggert, eine Scheibe eingeschlagen und versucht, sich vor einen Zug zu werfen.« Das rechnete sie ihm hoch an und für einen winzigen Augenblick wollten sich die alten Deckx-Gefühle in ihr aufbäumen. Sie ließ es nicht zu. Deckx war nicht gut für sie. Deckx wollte sie nicht. Sie schloss den Browser und fuhr den Laptop herunter. Ihre Mutter sah sie gespannt an, aber Vany hatte keine Ahnung, was sie von ihr hören wollte. Sie sehnte sich danach, mit Jazz zu reden, obwohl es Ewigkeiten dauern würde, ihr alles zu erklären. Mit ihrer Mutter wollte sie sich jedenfalls nicht darüber austauschen.

      »Ich bin oben, wenn du mich suchst.«

      Die Reaktion schien ihrer Mutter nicht zu passen. Sie nahm sie am Ärmel und fragte ängstlich: »Du machst doch keinen Unsinn, oder?«

      Vany musste sich beherrschen, nicht genervt aufzustöhnen. Wie oft würde sie ihren Eltern von heute an versichern müssen, dass sie nicht vorhatte, sich umzubringen? Fünfmal am Tag? Oder besser gleich zehnmal?

      »Ich geh duschen«, sagte sie und machte sich los.

      Vany schloss sich im Bad ein und lehnte sich gegen die Tür. Sie verstand gar nichts mehr. Nachdem sie ihr Tagebuch bereinigt und sich selbst geschworen hatte, von nun an alles anders zu machen, hatte sie sich beschwingt gefühlt. Sie hatte erwartet, dass ihre Mutter darauf eingehen würde, dass sie es bemerken und sie dafür loben würde. Stattdessen bekam sie Misstrauen und komische Blicke. Vany spürte die Wut in sich. Die gleiche Wut, die sie dazu gebracht hatte, auf den Schwabbelschrank einzuprügeln und die Scheibe zu zertrümmern. Sie wollte nicht mehr wütend sein. Sie wollte positiv denken und nach vorn schauen! Sie ging unter die Dusche und stellte das Wasser so kalt, wie sie es gerade ertragen konnte. Während sie dastand, unterzog sie ihr Knie einer genaueren Untersuchung. Es fühlte sich überhaupt nicht gesund an. Es trug sie nicht und war immer noch geschwollen. Sie wusste, dass sie Geduld haben musste, auch wenn ihr das verdammt schwerfiel. Vany blieb unter der Dusche, bis sie am ganzen Körper vor Kälte zitterte. Die Wut war verflogen. Wenigstens etwas. In ihrem Zimmer suchte sie sich möglichst helle Kleidung heraus, um den anderen zu demonstrieren, dass ihre Stimmung sich aufgehellt hatte. Nachdem ihre Mutter am Vormittag jedoch schon nichts davon mitbekommen hatte, hatte sie wenig Hoffnung, dass irgendjemand es bemerken würde. Erst als sie sich fertig angezogen hatte, stellte sie fest, dass ihre Mutter ihr den Laptop auf den Schreibtisch gelegt hatte. Es war vermutlich gut gemeint. Eine Art Friedensangebot. Trotzdem fühlte sich Vany unwohl dabei. Sie betrachtete das Gerät, als wäre es eine tickende Zeitbombe, die jeden Moment hochgehen konnte. Kurz entschlossen schnappte sie das Ding und schob es in das Fach unter der Schreibplatte. Sie legte noch ein paar Bücher davor, damit sie es bloß nicht sehen musste. Jetzt fühlte sie sich etwas besser. Sie blickte auf ihr Handy. Jazz war mit einem Treffen am Sonntag einverstanden. Wenigstens klappte einmal etwas. Sie setzte sich auf ihr Bett und überlegte, was sie tun sollte. Der Laptop war aus ihrem Blickfeld verschwunden, allerdings nicht aus ihren Gedanken. Es gab so vieles, worüber sie hätte nachdenken sollen, aber lieber hätte sie sich abgelenkt. Ihr Blick fiel auf die Xbox, die noch an ihren Fernseher angeschlossen war. Damit hatte alles angefangen. Mit Fußballgott 2016. Irgendwann hatte sie dann nur noch Let’s Plays gesehen und das Spiel nicht mehr weiter verfolgt. Tim war ohnehin nur mit Lernen beschäftigt und nach dem, was zwischen ihnen vorgefallen war, bezweifelte Vany, dass es jemals wieder so werden würde wie früher. Trotzdem reizte es sie, diesen Moment wieder aufleben zu lassen. Sie schaltete Fernseher und Xbox ein und begann zu zocken. Das Spiel forderte sie längst nicht so wie am Anfang und ihr Ehrgeiz war verpufft. Noch immer gelang ihr nicht alles, doch auf einmal machte es ihr nicht mehr so viel aus, zu verlieren. Sie war richtig stolz auf sich, als sie das erkannte, und das Spiel machte ihr mehr Spaß denn je. Sie bekam ein paar Stunden totgeschlagen und schließlich stand Tim in der Tür und sah ihr schweigend zu. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie ihn bemerkte. Vany beschloss, einen Vorstoß zu wagen, und fragte: »Willst du mitspielen?«

      Die Antwort, ein desinteressiertes »Hab zu tun.«, gefiel ihr ganz und gar nicht. Was war bloß los mit ihrer Familie? Sie gab sich die größte Mühe, alles wieder geradezubiegen und niemand kam ihr entgegen? Aber so schnell gab sie nicht auf.

      »Ist doch Wochenende!«

      Sie ließ das Spiel pausieren und drehte sich zu Tim um. Er sah sie säuerlich an. Sie hatte keine Ahnung, was sie falsch gemacht hatte. Sie war freundlich gewesen, heiter. So, wie man sich eine kleine Schwester wünschen sollte. Und er schüttelte abfällig den Kopf und sagte: »Ich versteh dich einfach nicht. Gestern willst du dich vor einen Zug werfen und heute tust du so, als wäre nie was gewesen? Sorry, das ist mir zu doof.«

      Das hatte gesessen. Vany spürte einen eisernen Dolch in ihrem Herzen. Sie kämpfte die Tränen zurück, bemühte sich, es ihn nicht sehen zu lassen. Zum Glück drehte er sich um und ging in sein Zimmer. Nun war sie wieder da: die Wut. Vany zwang sich, tief durchzuatmen. Dann schaltete sie die Xbox aus, stand auf und schloss ihre Zimmertür. Den ganzen Vormittag hatte sie sie offen gelassen. Als Einladung für ihre Mutter und Tim, wenn er nach Hause kam. Als Zeichen, dass sie Nähe wollte. Aber niemand war gekommen. Niemand hatte ihr gegeben, wonach sie sich sehnte. Was erwartete ihre Familie von ihr? Ihr kam es fast so vor, als wollten sie alle, dass sie es noch einmal versuchte. Vany nahm ihr gerupftes Tagebuch zur Hand und schlug es auf. In ihrem Schwur hatte sie einige Personen erwähnt. Sie beschloss, eine Liste anzulegen.

      Mama – verhält sich seltsam.

      Papa

      Tim – scheint sauer auf mich zu sein.

      Jazz

      Leon

      Das Team

      Frau Volckmann-Doose

      Ihren Vater hatte sie heute noch nicht gesehen und nachdem der Rest ihrer Familie so sonderbar reagiert hatte, bekam sie schon Magenschmerzen, wenn sie nur an eine Begegnung mit ihm dachte. Alle schienen sauer auf sie zu sein. Hieß es sonst nicht überall, ein misslungener Selbstmordversuch wäre ein Schrei nach Hilfe? Warum half ihr dann niemand? Alle führten sich auf, als müssten sie sie bestrafen. Vany wollte sich jedoch nicht kleinkriegen lassen. Sie würde das irgendwie durchstehen. Notfalls auch allein.

      Ihr Vater war noch nicht von der Arbeit zurück, als ihre Mutter ihr von unten zurief, es wäre Zeit für die Krankengymnastik. Vany trödelte nicht. Bloß nicht noch mehr Ärger anziehen! Ihre Mutter wirkte weiterhin nervös und Vanys Laune sank in den Keller. Vielleicht sollte sie ihren Schwur kopieren und jeder Person in ihrem Leben eine Kopie aushändigen: »Hier, seht her! Ich habe beschlossen, dass ich leben will! Es wäre schön, dabei etwas Unterstützung zu bekommen!«

      Aber sie befürchtete, selbst wenn sie das täte – einen Auszug aus ihrem Tagebuch verbreiten, aus dem intimsten Dokument, das sie besaß! - würde ihre Familie sich trotzdem nicht beruhigen. Sie fasste den Entschluss, am Montag mit Frau Volckmann-Doose darüber zu sprechen. Die war schließlich Fachfrau für so was und außerdem war sie dazu da, ihr zu helfen. Wenn die sie ebenfalls fallen ließ, war vermutlich Hopfen und Malz verloren.

      Ihre Mutter setzte sie bei der Krankengymnastik ab, verkündete, dass sie einkaufen wollte und nach einer Stunde wieder da sein würde. Vany versuchte erneut, positiv zu denken. Die