Hanna Nolden

Let´s play love: Leon


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Einen Blick, der Vanys Deutung nach so viel hieß wie »Hab ich’s dir nicht gleich gesagt?«

      Jazz indes war niemand, der einen Plan schnell aufgab, bloß weil er im ersten Augenblick nicht zu funktionieren schien. Sie übernahm das Wort.

      »Leon und ich saßen am Freitag in der Mensa, als Tim sich zu uns gesetzt hat. Er hat uns erzählt, dass deine Eltern dich in Köln bei der Polizei abholen mussten und was passiert war. Daher haben Leon und ich Nummern ausgetauscht und ich habe gestern beschlossen, dass ich ihn heute mitbringe. Immerhin sind wir Freunde, oder? Fast sowas wie eine Clique.«

      Eine Clique? Vany musste sich zusammenreißen, um nicht auszurasten. Jedes einzelne Wort kam ihr wie ein Angriff vor. Sie ist einen Tag nicht da und Jazz setzt sich direkt zu Leon an den Tisch? Ihr blöder Bruder verrät sie gleich zum zweiten Mal und dann tauschen die beiden auch noch Nummern? Bekam Jazz jetzt Mineralwasser-und-Salat-Nachrichten? Leon schien zu sehen, dass Vany kurz vorm Ausflippen war und wandte sich an Jazz: »Könntest du uns kurz allein lassen?«

      Jazz nickte zögerlich, verließ das Zimmer und schloss die Tür. Vany hatte das Gefühl, die Luft wäre zu dick zum Atmen. Sie saß noch auf ihrem Schreibtischstuhl und Leon ging vor ihr in die Knie, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Er druckste nicht lange herum, kam gleich zur Sache: »Stimmt es? Hast du versucht, dich umzubringen?«

      Vanys Gedanken überschlugen sich und sie konnte kaum einen davon greifen. Er hatte nicht gefragt, was sie in Köln gemacht hatte. Der andere Punkt schien ihm wichtiger zu sein. Was wollte er von ihr hören? Sie zuckte abwehrend die Achseln.

      »Weiß nicht.«

      Er sah sie an mit einem so ernsten Gesichtsausdruck, wie sie ihn noch nie bei ihm gesehen hatte.

      »Was heißt, du weißt es nicht? Du musst doch wissen, ob du dich umbringen wolltest? Dein Bruder behauptet, du hast dich vor einen Zug werfen wollen.«

      »Ich ...«, stammelte Vany, hoffnungslos überfordert. Sie spürte, dass ihr die Tränen kamen und sie sie nicht zurückhalten konnte. »Ich war am Bahnhof. Ich war durcheinander. Ich ... kann mich nicht genau erinnern.«

      »Du kannst dich nicht erinnern? Warum nicht? Hast du Drogen genommen oder so? Was war denn bloß los? Was hast du in Köln gemacht?«

      Vany war verzweifelt. Sie wollte nicht, dass Leon so mit ihr sprach. Es kam ihr wie eine Anklage vor und sie hatte keine Ahnung, wie sie sich verteidigen sollte.

      »Ich habe keine Drogen genommen. Du weißt, dass ich keine Drogen nehme!«

      »Weiß ich das?«, provozierte er sie. »Das ist doch die Frage, oder? Was weiß ich eigentlich wirklich über dich? Ich wollte dich näher kennenlernen, du wiederum gibst mir nur Rätsel auf. Ich verstehe dich einfach nicht. Du siehst mich im Park mit einer Kollegin, rennst weg und im nächsten Moment erfahre ich, dass du dich vor einen Zug werfen wolltest. Hunderte Kilometer von hier entfernt. Und jetzt sitzt du hier und behauptest, du wüsstest nicht, ob du dich umbringen wolltest?«

      Vany rieb sich die Arme. Noch nicht einmal in der Polizeiwache hatte sie sich so unwohl gefühlt. Sie konnte Leon nicht in die Augen sehen. Eine Träne tropfte von oben auf ihr Knie und färbte den Stoff der Jeans dunkelblau.

      »Du hast gesagt, dass du mich gern hast«, wimmerte sie. Ihrer Stimme fehlte jede Kraft. Sie fühlte sich so verloren. Leon stöhnte auf.

      »Himmel, Vany! Natürlich habe ich dich gern. Sonst wäre ich wohl kaum hier. Das macht es so verdammt schwer. Wann immer ich versuche, dir nahe zu kommen, rennst du weg. Ich habe das Gefühl, du willst meine Nähe gar nicht. Und das wäre noch nicht einmal das Schlimmste. Als ich dich zum ersten Mal wahrgenommen habe, im Vorraum zum Büro der Psychotante, da habe ich gedacht, das bedeutet was. Du hast so verloren gewirkt, dass ich dich beschützen wollte. Gleichzeitig schwach und stark. Ich wollte dich unbedingt besser kennenlernen, du dagegen gibst mir nichts. Keinen einzigen Hinweis darauf, was du magst, was du erwartest. Als wäre dein ganzes Leben mit diesem einen Ding, das dir etwas bedeutet hat, verpufft. Und wenn du das Leben so wenig achtest, dass du es einfach wegwerfen willst ... dann ...«

      »Dann was?«, hauchte sie, als er nicht weiter sprach, und sah verunsichert zu ihm auf. Er schüttelte den Kopf.

      »Ich habe Menschen verloren, die ich sehr liebte. Ich habe mich in meinem Leben oft allein gefühlt, trotzdem wollte ich es nie wegwerfen. Ich sehe mir jeden Tag mit an, wie mein Vater sich langsam zu Tode säuft, du jedoch wolltest alles mit einem Schlag beenden. Und ich weiß nicht ... ich weiß einfach nicht, ob ich ... mit jemandem zusammen sein kann, der das Leben so wenig schätzt.«

      Vany konnte es nicht verhindern. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Sie wünschte so sehr, dass er sie in den Arm nehmen würde, aber das tat er nicht. Sie wusste, dass ihm die Worte schwergefallen waren. Sie hatte sein Zögern gespürt. Doch jetzt war alles raus. Er war ehrlich gewesen. Er war immer ehrlich zu ihr gewesen. Das hatte er ihr voraus. Schließlich spürte sie seine Hand an ihrer nassen Wange. Sie lehnte sich dagegen und schloss die Augen. Er nahm seine Worte nicht zurück.

      »Lass mir Zeit. Und nimm dir selbst auch welche. Und wenn du bereit bist, meine Fragen zu beantworten, reden wir.«

      Und er war fort. Vany hörte die Tür, hörte, wie Jazz seinen Namen nannte, hörte die Treppe. Dann war Jazz bei ihr und zog sie in ihre Arme.

      »Oh, Süße, was ist passiert?«

      Vany presste ihr Gesicht an Jazz´ Schulter, krallte sich an ihr fest und weinte haltlos. Nicht einmal Deckx´ Ablehnung hatte so wehgetan wie das hier. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie wollte vielleicht nicht mehr sterben, dieses Leben wollte sie allerdings auch nicht mehr. Sie hätte alles darum gegeben, wirklich mit Rebekka McLight tauschen zu können.

      »Was hat er getan? Ich … ich hätte ihn nicht mitgebracht, wenn ich gewusst hätte, dass er dich zum Weinen bringt.«

      Jazz´ Verzweiflung erreichte Vany, so sehr sie auch mit ihrer eigenen beschäftigt war. Sie löste sich von Jazz, vergrub das Gesicht in ihrem T-Shirt und versuchte, es einigermaßen trocken zu bekommen. Sie konnte weder über Leon noch über sich selbst reden. Sie hatte sich fest vorgenommen, Jazz alles zu beichten. Wie sie sich in die Idee verrannt hatte, Deckx könnte sich in sie verlieben. Wie sie mehr und mehr süchtig geworden war von seinen Let’s Plays. So süchtig, dass sie auch jetzt, nach allem, was sie in Köln erlebt hatte, nicht von ihm lassen konnte, ihn brauchte, um einschlafen zu können, um einmal wenigstens mit Denken aufzuhören.

      »Kennst du das, wenn man versucht, alles richtig zu machen? Alles wieder in Ordnung zu bringen und es bröckelt an allen Ecken und Enden, weil zu viel kaputt ist, um es zu reparieren.«

      Jazz verzog das Gesicht.

      »Ach Vany, sag so was nicht! Es kommt alles wieder in Ordnung. Bestimmt! Du musst nur … Geduld haben.«

      Vany nickte zögernd. Aber sie fühlte sich so leer, dass sie nicht einmal sagen konnte, ob Jazz´ Worte Sinn ergaben oder nicht. Sie wäre lieber für sich gewesen, wusste jedoch nicht, wie sie Jazz dazu bringen sollte, zu gehen, wo sie gerade erst gekommen war. Zum Glück verschaffte Jazz selbst ihr eine Atempause, indem sie anbot: »Soll ich uns was zu trinken raufholen?«

      »Ja. Ja, das wäre gut.«

      Jazz sprang auf, als könnte sie es nicht erwarten, aus dem Zimmer zu kommen. Vany versuchte, sich irgendwie zu sammeln. Sie wollte nicht über Leon nachdenken, über das, was auch immer er von ihr erwartete. Sie hievte sich hoch und schlurfte zu ihrem Kleiderschrank. Sie setzte sich auf den Boden und öffnete die Schiebetür. Sofort fanden ihre Hände das Kleiderbündel, in dem der Laptop versteckt war. Sie schob zwei Finger durch die Stoffschichten und berührte das Plastik. Sie schloss die Augen und versuchte, ihn zu spüren, seine Energie, seine Ruhe wahrzunehmen.

      Heute Nacht, dachte sie. Heute Nacht werde ich dieses Leben zumindest kurz hinter mir lassen und jemand anders sein. Dann vergesse ich den Schmerz.

      Augenblicklich ging es ihr besser. Sie stellte sich vor, Rebekka McLight zu sein. Die würde bestimmt nicht heulend zusammenbrechen, wenn ein Junge ihr eine Abfuhr erteilte. Nein,