Hanna Nolden

Let´s play love: Leon


Скачать книгу

      Offen und ehrlich. Vany atmete tief durch. Zum ersten Mal an diesem Tag schöpfte sie Hoffnung. Vielleicht konnte Frau Volckmann-Doose ihr ja tatsächlich helfen. Dabei, ihre Gedanken zu ordnen. Dabei, Rebekka McLight wieder einzustampfen und einen Schlussstrich unter das Kapitel Deckx zu ziehen.

      »Beginnen wir doch mit dem jungen Mann. Wer ist das? Wie bist du auf ihn gekommen? Was hat dich dazu bewogen, für ihn nach Köln zu fahren?«

      Das könnte eine lange Sitzung werden, überlegte Vany. Die Worte fielen ihr unglaublich schwer, dennoch mussten sie raus und einmal angefangen konnte sie nicht wieder aufhören: »Sein Name ist Frank Decker. Ich habe ihn im Internet unter dem Namen Deckx kennengelernt. Nach meiner Knieverletzung. Er ist mir sehr schnell sehr wichtig geworden. Er hat einen YouTube-Kanal. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was das ist. Er lädt Videos im Internet hoch, wo er Computerspiele spielt und kommentiert. Ich habe viel Zeit damit verbracht, seine Videos zu sehen und seine Stimme … seine Stimme zu hören, war ein wichtiger Bestandteil meines Tages.«

      Sie versuchte, zu ergründen, was in Frau Volckmann-Doose vorging, die ein wenig ratlos aussah. Vany wusste, dass Computersucht bei Jugendlichen nicht so selten war. Sie hatten bereits im Unterricht darüber gesprochen, allerdings zu einer Zeit, in der sie sich null für Computer interessiert hatte.

      Plötzlich schien sich in der Psychologin ein Schalter umzulegen, als wäre ihr gerade ein Fragenkatalog eingefallen, den sie irgendwann einmal auswendig gelernt hatte.

      »Du sagst, du hast nach deiner Knieverletzung damit begonnen, diese Videos zu sehen. Überhaupt ist diese Knieverletzung scheinbar der Auslöser für alle deine Probleme. Ich habe mich lange mit deinen Eltern unterhalten und sie haben erwähnt, dass du sehr ehrgeizig gewesen bist. Aber auf mich macht es gerade den Eindruck, als würdest du generell zu Suchtverhalten neigen. Würdest du sagen, dass du vor deiner Verletzung so viel Zeit mit Sport verbracht hast, wie du nach der Verletzung damit verbracht hast, diese Videos anzusehen?«

      Bereits diese erste Frage brachte Vany ins Trudeln. Sie hatte ihren Sport nie als etwas Negatives betrachtet, obwohl sie sich tatsächlich bemüht hatte, die Fitteste auf dem Platz zu sein. Während andere Mädchen aus ihrem Team sich damit begnügt hatten, zu den festen Trainingszeiten auf dem Platz zu sein, war Vany nebenbei joggen oder Fahrrad fahren gegangen und hatte am Abend Kraftsport gemacht. Es stimmte schon. In ihrem Leben hatte sich fast alles um Sport gedreht. Und das war es vermutlich, was Leon gemeint hatte. In ihrem Leben gab es wenig anderes als das.

      »Ja, kann sein«, murmelte Vany verunsichert.

      »Als deine Eltern dir den Laptop weggenommen haben, hat sich das so ähnlich angefühlt, wie damals, als du den Kreuzbandriss hattest? Hast du da oft daran gedacht, dass du jetzt lieber auf dem Platz stehen würdest oder später, dass du viel lieber Videos sehen würdest als irgendetwas anderes zu tun?«

      Vany riss überrascht die Augen auf. Verdammt! Sie war davon ausgegangen, dass es auf diesem Planeten keine inkompetentere Psychologin als ihre gab, aber sie hatte wirklich Recht. Da gab es erstaunliche Parallelen. Sie nickte verblüfft und ein wenig erschrocken.

      »Wie geht es dir jetzt damit? Kannst du dir ein Leben ohne Sport vorstellen? Oder ein Leben ohne die Videos dieses jungen Mannes?«

      Eiskalt erwischt. Sie hatte es versucht. Nach ihrer Knieverletzung hatte sie versucht, ohne Sport auszukommen und hatte sich mit einer ganzen Reihe Sit-ups an den Rand der Erschöpfung getrieben. Und nun? Sie hatte sich gesagt, dass sie durch war mit Deckx. Dass sie ihn nicht mehr brauchte und nicht mehr an ihn denken wollte. Sie hatte jedes Wort von ihm aus ihrem Tagebuch entfernt und zerstört. Sie war so überzeugt gewesen, es geschafft zu haben, um gleich am ersten Abend wieder rückfällig zu werden. In ihrem Innern tat sich auf einmal eine große Leere auf, die sie zu verschlingen drohte. Vany kämpfte dagegen an und versuchte, sich zu verteidigen: »Nun, also, ich glaube, es ist gar nicht so sinnvoll, ein Leben ohne Sport zu führen. Sport ist immerhin sehr gesund. Und das Internet … das ist ja quasi überall. Da kann man sich ja eigentlich gar nicht entziehen.«

      Frau Volckmann-Doose nickte, als würde sie ihr zustimmen, aber sie kritzelte eine Menge unleserlicher Notizen in ihren Block. Vany schlang die Arme um sich selbst und versuchte, sich auf diese Weise etwas Halt zu geben. Es gelang kläglich.

      »Gibt es vielleicht andere Dinge, die dir Spaß machen? Etwas, das dich ablenken könnte oder das mit Sport oder Internetvideos gleichzusetzen wäre?«

      Vany drehte diese Frage geradezu verzweifelt in ihrem Kopf. Wieder war da dieses Aha-Erlebnis. Genau das war es, was Leon ihr hatte klarmachen wollen. Da war nichts. Leon war so vielschichtig. Er zeichnete Comics, führte Hunde aus und verstand sich gut mit den Kollegen. Er ging für alte Menschen einkaufen und aß mit ihnen, verbrachte Zeit mit so vielen verschiedenen Menschen. Und sie?

      »Ich habe eine Zeitlang mit meiner Familie Spiele gespielt. Brettspiele. Und Xbox mit meinem Bruder. Und ich habe Jazz. Meine Freundin. Und Leon. In den letzten Tagen habe ich meiner Mutter in der Küche geholfen. Ich glaube, Kochen könnte mir Spaß machen.«

      Sie hörte selbst, wie unzulänglich ihre Verteidigungsversuche klangen. Himmel, sie war verloren! Und Frau Volckmann-Doose war längst nicht fertig mit ihr.

      »Wenn etwas dich traurig macht oder aufwühlt, wo suchst du Trost?«

      Die Antwort stand Vany sofort klar vor Augen: bei Deckx. Nichts konnte sie so gut ablenken und trösten wie seine Stimme. Wie war es vor Deckx gewesen? Wo hatte sie da Trost gefunden?

      »Bei meinem Bruder. Und bei Jazz, meiner besten Freundin.«

      Die Antworten klangen gut. Natürlich. Gesünder. Und sie waren gelogen, denn im Moment wollte Vany weder von Jazz noch von ihrem Bruder Trost. Frau Volckmann-Doose schien die Lüge zu riechen.

      »Verheimlichst du deinen Eltern oder anderen, wie viel Zeit du damit zubringst, Videos zu sehen?«

      Erneut ins Schwarze. Vany dachte an ihren Laptop, der im Dunkeln ihres Kleiderschrankes auf sie wartete. An das geheime Profil, das sie angelegt hatte. Mehr Heimlichkeit ging schon gar nicht mehr. Sie schloss die Augen und schüttelte langsam den Kopf.

      »Ich glaube nicht.«

      »Wie reagierst du, wenn dich jemand beim Gucken deiner Videos stört? Macht dich das wütend?«

      Vany verzog unwillkürlich den Mund. Sie erinnerte sich daran, wie sie die erste WhatsApp von Leon bekommen hatte. Wie Tim ihr den Laptop weggenommen hatte. Was passierte hier mit ihr? Wie konnte es sein, dass jede dieser Fragen sie mitten ins Herz traf?

      »Ich bin ziemlich oft wütend in letzter Zeit«, gab sie kleinlaut zu. Diesmal war es an Frau Volckmann-Doose zu nicken.

      »Ja, das bist du. Und du bist sehr durcheinander. Das sehe ich. Ich will dir nicht verheimlichen, dass ich mir, genau wie deine Eltern, Sorgen um dich mache. Ich glaube, dass du in großer seelischer Not steckst, und ich fürchte, dass meine Mittel, dir hier zu helfen, begrenzt sind. Deine Eltern wollen es nicht sehen, aber ich halte eine längere und intensivere Therapie für angebracht.«

      Lang und intensiv? Was sollte das heißen? Tägliche Sitzungen? Oder sogar eine Klinik wie die, in der Annikas Schwester ihre Magersucht behandeln ließ?

      »Wir stehen kurz vor den Abiturprüfungen und während dieser Zeit warten andere Aufgaben auf mich. Und auch in den Maiferien werde ich nicht für dich da sein können. Ich habe deinen Eltern die Adressen von ein paar Kliniken zukommen lassen, die in Frage kämen, sie waren jedoch der Meinung, dass sie dir erst einmal die Chance geben wollen, selbst wieder auf Kurs zu kommen.«

      Der Tonfall in Frau Volckmann-Dooses Stimme machte deutlich, dass sie nicht davon ausging, dass Vany es allein schaffen würde. Vany war wie vor den Kopf gestoßen. Sie hatte sich so fest vorgenommen, heute mit der Schulpsychologin ehrlich zu sein und alles aus diesem Gespräch mitzunehmen, was nur irgend ging. Doch das Gespräch hinterließ nur ein Gefühl bei ihr: Die Psychologin gab sie auf. Genau so, wie Leon sie aufgegeben hatte. Oder ihr Bruder. Vany spürte, wie ihr Innerstes gefror. Eine dicke Schicht aus Eis legte sich wie ein Panzer um ihr Herz, jagte Eiswasser durch ihre Adern und kühlte alles runter.