Hanna Nolden

Let´s play love: Leon


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Zum Beispiel von seinem Hund und was er auf der Gassirunde erlebt hatte. Manchmal auch von Kunden, denen er im Einzelhandel begegnete, obwohl er, so Vany wusste, erst einmal erwähnt hatte, wo genau er im Einzelhandel arbeitete, was er jetzt vermutlich bitter bereute. Vany verzog das Gesicht. Sie war so dumm gewesen! Hätte sie bloß mehr Geduld gehabt, hätte sich da bestimmt etwas anbahnen lassen. Aber sie hatte es übertreiben müssen. Im Grunde war ihr Hang zur Übertreibung sogar schuld an ihrer Knieverletzung. Hätte sie auf dem Platz nicht so viel Gas gegeben, wäre sie vielleicht noch gesund. Und Leon? Da hatte sie eher zu wenig Gas gegeben. Vany schüttelte so heftig den Kopf, als versuchte sie, jeden einzelnen Leon-Fußball rauszuwerfen. Ihr war klar, dass sie es sich sowohl mit Leon als auch mit Deckx verscherzt hatte. Und wohl mit so ziemlich jedem in ihrem Leben. Jazz hatte deutlich gemacht, dass sie es ihr übel nahm, dass sie ohne ein Wort fortgelaufen war und versucht hatte, sich umzubringen. Und obwohl ein Großteil ihrer Familie sich jetzt um sie bemühte, spürte Vany, dass sie ganz allein war und sie wollte nicht länger allein sein. Oder sie wollte nicht länger ein Mensch sein, dem Alleinsein etwas ausmachte. Sie stellte sich vor, wie Rebekka McLight die Einsamkeit verehrte. Es gab viele Texte über Einsamkeit in den Liedern, die Vany durch Deckx entdeckt hatte. Sie malte sich aus, wie Rebekka auf Friedhöfen spazieren ging und die Stille und die Einsamkeit genoss. Genauso, wie Vany früher die Gemeinschaft auf dem Platz genossen hatte. Rebekka war in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von Vany und das war gut so. Denn so würde Deckx keinen Verdacht schöpfen und vielleicht anfangen, sich für sie zu interessieren.

      Als endlich alle im Bett waren und das Haus lange genug in Stille gelegen hatte, stand Vany auf und holte ihren Laptop aus dem Schrank. Um das Gefühl, Rebekka zu sein, noch zu verstärken, zog sie den schwarzen Pullover an und legte ihre Kette um. Dinge, die eigentlich nie so recht zu ihr als Vany gepasst hatten. Hier passten sie. Rebekka loggte sich ein und überprüfte Deckx´ Kanal. Unter seinem Ankündigungsvideo waren mehrere neue Kommentare aufgetaucht. Alle waren voller Bedauern und obschon er darum gebeten hatte, von Nachfragen abzusehen, wollten natürlich viele wissen, was passiert war. Rebekkas Kommentar hatte ein paar Likes bekommen. Kurz verspürte sie das Verlangen, sich eines der alten Videos anzusehen. Sie stellte sich vor, was Deckx sagte, ließ seine Begrüßungsfloskel in sich ablaufen und wiederholte Sätze, Witze und Sprüche, die ihr besonders gefallen hatten. Sie zwang sich, stark zu bleiben. Rebekka war ein Neuanfang. Sie hatte keine nostalgischen Erinnerungen an bereits gesehene Videos. Sie fuhr den Laptop wieder herunter, zog den Pullover aus und nahm die Kette ab. Dann wickelte sie den Laptop wieder im Pullover ein und versteckte ihn von neuem im Kleiderschrank. Vany kontrollierte, ob ihr Wecker gestellt war, und ging schlafen.

      Am Montagmorgen fiel es ihr schwer, richtig wach zu werden. Sie hatte nicht gleich einschlafen können und sich stundenlang zurechtgelegt, was sie Frau Volckmann-Doose mitteilen wollte. Sie hatte das Gespräch wieder und wieder durchgespielt, aber wohler war ihr bei dem Gedanken an die nächste Therapiestunde nicht geworden. Überhaupt gab es an diesem Morgen einige unangenehme Dinge. Zum Beispiel die Begegnung mit Tim, der sie so kritisch beäugte, als fürchtete er, sie würde jederzeit zum Messer greifen und sich vor den Augen der ganzen Familie die Pulsadern aufschneiden. Ihre Mutter war auch besorgt, jedoch aus anderen Gründen: »Meinst du denn wirklich, dass du wieder zur Schule gehen möchtest? Wir könnten zum Arzt gehen und dich krankschreiben lassen. Ich meine ... vielleicht ist es sowieso keine schlechte Idee, dich einmal durchchecken zu lassen.«

      Vany schüttelte den Kopf. »Sind doch nur ein paar Prellungen. Und mit Prellungen kenne ich mich aus. Davon hatte ich in meinem Leben nun wahrlich genug.«

      »Du weißt genau, dass ich nicht die Prellungen meine«, wurde ihre Mutter ungewohnt streng. Sie hatten ein paar schöne Stunden zusammen gehabt am Wochenende, was es ihrer Mutter offensichtlich nicht leichter machte, zu akzeptieren, was geschehen war. Vany verkniff sich ein Augenrollen und bemühte sich, ihre Stimme sanft und liebevoll klingen zu lassen: »Ich bin heute bei Frau Volckmann-Doose. Die habt ihr doch informiert, oder? Ich werde einfach mit ihr reden. Und außerdem habe ich gesagt, dass es mir besser geht. Ich war bloß ein wenig durcheinander. Jetzt bin ich wieder auf Kurs. Ehrenwort!«

      Tim stellte krachend seine Müslischüssel ins Spülbecken und gab ansonsten keinen Ton von sich, aber sein Gesichtsausdruck verriet Vany, was in ihm vorging. Er glaubte ihr kein Wort. Ihr Vater ließ sich wie immer nichts anmerken, und ihre Mutter rang sichtlich mit sich. Schließlich gab sie nach: »Hoffen wir mal, dass die Gespräche mit Frau Volckmann-Doose etwas bringen.«

      »Ganz bestimmt«, beteuerte Vany zuversichtlich.

      Mehr Sorgen als der Termin bei Frau Volckmann-Doose machte Vany allerdings eine bevorstehende Begegnung mit Leon. Bei dem Gedanken daran wurde ihr so schlecht, dass ihr fast das Frühstück hochkam. Sie könnte zwar zur Mittagspause die Mensa meiden, trotzdem lief sie Gefahr, ihm irgendwo zu begegnen, und außerdem war das mehr als feige. Sie war sich immer noch nicht im Klaren darüber, was sie eigentlich wollte. Seine Worte hatten sie verletzt, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass sie selbst mehr von Leon wollte, aber ein anderer Teil von ihr wollte das Gegenteil. Sie verspürte ein gewisses Unbehagen, wenn sie an diesen Teil dachte, den Teil, den sie Rebekka nannte. In ihr schrillten sämtliche Alarmglocken. Sie wusste, dass sie sich auf einen gefährlichen, unüberschaubaren Weg begab, aber sie konnte es nicht lassen. Irgendetwas trieb sie dazu an, weiterzugehen, konnte noch nicht von Deckx lassen. Vany hätte Deckx lieber aus ihrem Leben gestrichen und sich ganz aufs Voranschreiten konzentriert, inzwischen war es jedoch fast so, als wäre Rebekka eine eigenständige Person, die selbst ihre Entscheidungen traf. Und Rebekka wollte bloß eines: Deckx. Rebekka war Leon vollkommen egal. Vany spürte eine immer breitere Kluft zwischen sich und der fiktiven Person, die sie erschaffen hatte. Als würde etwas in ihrem Inneren immer weiter auseinanderdriften und sie konnte es nicht aufhalten. Sie konnte nicht einfach Stopp rufen und den Rebekka-Plan aufgeben. Sie konnte von diesem Teil ihres Lebens nicht einmal sprechen. Und sie würde es bei dem Gespräch mit Frau Volckmann-Doose ausklammern.

      Jazz begrüßte sie mit einer liebevollen Umarmung im Klassenraum, was Vany etwas unangenehm war. Verstohlen sah sie sich im Zimmer um. Sie hatte das Gefühl, jeder würde sie anstarren. Jedes getuschelte Gespräch schien ihr zu gelten, jedes Lachen sie auszulachen. Gerüchte machten an Schulen schnell die Runde und sie konnte nicht sicher wissen, wem Tim von ihrem Selbstmordversuch erzählt hatte. Im Unterricht halfen ihr auch ihre neu geordneten Schulunterlagen nicht. Sie war so fahrig, dass sie sich nicht konzentrieren konnte. Mechanisch schrieb sie mit in der Hoffnung, den Stoff zuhause nachholen zu können, mehr war nicht drin. Die Lehrer waren auf jeden Fall von ihren Eltern informiert worden, denn man ließ sie komplett in Ruhe. Es war fast, als wäre sie unsichtbar. Die Erwachsenen konnten sie kaum ansehen, während die Augen der anderen Jugendlichen immer mal wieder neugierig auf ihr ruhten. Dann ging es für Jazz zum Sportunterricht und für Vany ins Büro der Schulpsychologin. Jetzt wurde es ernst. Ihr schlug das Herz bis zum Hals, vor allem, weil sie fest entschlossen war, sich diesmal nicht zu verstellen und tatsächlich etwas von sich preiszugeben. Interessanterweise schien Frau Volckmann-Doose mindestens genauso nervös zu sein wie sie. Vany fragte sich, ob sie jemals mit suizidalen Jugendlichen zu tun gehabt hatte. Das bedeutete ja auch eine ganze Menge Verantwortung. Vany hoffte, dass die Psychologin ihr trotzdem würde helfen können, nachdem sie allerdings bereits erlebt hatte, wie inkompetent die Frau war, wagte sie das zu bezweifeln. Heute scheiterte es schon an der Begrüßung. Vany rechnete mit einer Eingangsfrage wie beim letzten Mal, doch nach einem unverbindlichen »Hallo Vanessa.« verstummte Frau Volckmann-Doose und sah sie nur an. Vany unterdrückte ein Seufzen. Machte sie es ihr absichtlich schwer? Sie ergriff die Initiative: »Ich nehme an, meine Eltern haben Ihnen erzählt, was letzte Woche geschehen ist?«

      Frau Volckmann-Doose nickte. »Sie haben mir berichtet, dass du von zuhause weggelaufen bist, um dich in Köln mit jemandem zu treffen. Es sei zu Handgreiflichkeiten gekommen und anschließend hast du dich vor einen Zug werfen wollen, wo du dann von der Polizei aufgegriffen wurdest. Ist das richtig?«

      Vany zuckte nachlässig die Schultern. »Im Groben ja.«

      »Wie fühlst du dich jetzt?«

      Endlich: Fragen!

      »Ich weiß es nicht genau. Es ist viel passiert. In meinem Kopf sind Unmengen Gefühle und Gedanken. Ich wundere mich, dass er noch