Hanna Nolden

Let´s play love: Leon


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mit Jazz zum Lernen – mal bei ihr und mal bei sich – und motivierte auch Tim dazu, alles zu geben. Sie telefonierte ab und zu mit Teamkolleginnen und hatte das Gefühl, dass sich da echte Freundschaften aufbauen konnten. Bisher hatte sie Jazz als ihre einzige Freundin betrachtet, aber die Mädchen und sie hatten immerhin eine wichtige Gemeinsamkeit: die Mannschaft. Es war großartig, mit jemandem über Fußball fachsimpeln zu können, was mit Jazz nie funktioniert hatte. Manchmal fragte sich Vany, warum sie sich nicht schon vorher häufiger mit ihren Kolleginnen getroffen hatte, aber die hatten früher nur auf dem Platz eine Bedeutung für sie gehabt. Vielleicht einfach, weil die meisten auf andere Schulen gingen und ihre ganz eigenen Probleme hatten. Jetzt gab Vany ihnen auf jeden Fall eine Chance und war froh, dass sie da waren. Außerdem gewöhnte sie sich an, den Nachmittagskaffee für ihre Mutter fertig zu haben, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, und war überhaupt eine tadellose Bilderbuchtochter. Sie stopfte so viel wie möglich in die wachen Stunden, so dass sie kaum zum Nachdenken kam. Und so glaubte sie sich tagsüber beinahe selbst, dass alles wieder in bester Ordnung war. Leon wurde so ungewollt doch noch Teil des »So tun als ob«-Plans. Ab und an bemerkte Vany nämlich, dass er sich in ihrer Nähe aufhielt und sie beobachtete, und da sie tagsüber in der Schule einen ausgeglichenen Eindruck machte, musste er zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass es ihr besser ging. Da sie sich jedoch nicht bei ihm gemeldet hatte, musste das für ihn heißen, dass sie noch nicht bereit war, seine Fragen zu beantworten. Und so war es leider. Vany wusste, dass sie Leon nicht würde anlügen können. Sie wollte es auch gar nicht. Sie wollte, dass Leon sie als Vany akzeptierte. Ihm etwas vorzuspielen, stand nicht zur Debatte. Aber sie hatte bisher keinen Weg gefunden, ihm alles zu beichten und ihn damit nicht vor den Kopf zu stoßen. Das würde einfach nicht funktionieren. Und die Wahrheit war, dass sich neben all den positiven Abläufen in ihrem Leben auch eine negative Routine entwickelte. Jede Nacht um drei Uhr ging ihr Wecker und die Verwandlung zu Rebekka begann. Jede Nacht prüfte Rebekka einmal Deckx´ Kanal, surfte im Internet nach Gothicklamotten und Schmuck und melancholischen Fotos. Vany fand, dass Rebekka ihr gar nicht so unähnlich war. Optisch betrachtet. Sie müsste sich bloß die Haare blondieren und endlich Schminken lernen. Aber dafür hatte sie im Moment noch keine Zeit und es würde zu sehr auffallen. Sie musste den richtigen Zeitpunkt für den nächsten Schritt der Verwandlung abwarten. Von Deckx indes gab es in der ganzen Woche kein Lebenszeichen, aber Rebekka hatte Zeit. Sie war ganz im Gegensatz zu Vany die Geduld in Person. Und vielleicht musste man das auch sein, wenn man nur eine Stunde am Tag existierte.

      Am Freitag ließ Vany das Lernen mit Jazz wegen der Krankengymnastik ausfallen. Da ihre Mutter inzwischen wieder normal arbeitete, fuhr Vany mit dem Bus und während der Fahrt steckte sie die Nase in ihr Geschichtsbuch, um nicht nachdenken zu müssen. Trotzdem drifteten ihre Gedanken ständig ab. Busfahren lud ja geradezu zum Träumen ein und Vany dachte über Rebekka nach, über Outfits und Haare und Make-up. Zum Glück dauerte die Fahrt nicht so lange und bei der Krankengymnastik kam sie gleich dran. Diesmal war Kerstin wirklich zufrieden mit ihr und schlug vor, die Krücken öfter mal zur Seite zu legen, um die Muskulatur zu kräftigen. Vany war unsicher, was das anbetraf, da sie ihrem Knie nicht traute. Es fühlte sich immer noch ganz schön instabil an, dennoch versprach sie, es im geschützten Rahmen, zum Beispiel zuhause, auszuprobieren. Nach der Krankengymnastik hatte Vany keine Lust, schon nach Hause zu fahren, und schlenderte etwas durch die Innenstadt. Jazz stand total auf Shopping und Vany hatte sie ein paar Mal begleitet, sich jedoch bisher nie viel aus Klamotten gemacht. Jetzt hielt sie die Augen offen nach schwarzer Kleidung, die zu Rebekka passen würde. So extravagante Sachen wie im Internet fand sie allerdings nicht. Zum Schluss betrat Vany den Drogeriemarkt und sah sich etwas überfordert um. Auch hier konnte Jazz sich stundenlang aufhalten, Nagellackfarben vergleichen und Parfums ausprobieren. Vany hätte sie gerne, an ihrer Seite gehabt, aber das passte mit »So tun als ob« nicht zusammen, denn heute schaute Vany nicht für sich, sondern für Rebekka. Sie nahm sich einen Wagen, legte die Krücken hinein und stützte sich auf den Griff. Langsam schob sie sich durch die Gänge, vorbei am Schaumbad und der Zahnpflege bis zu den Haarfarben. Die Auswahl erschlug Vany geradezu. Sie bezeichnete ihr Haar gerne als mausbraun, aber wenn sie hier ihre Haarfarbe auf einer Packung entdeckte, hieß sie »Karamell« oder »Haselnuss« oder »Warme Schokolade«. Vany schüttelte den Kopf. »Mausbraun« würde sich vermutlich nicht so gut verkaufen. Sie hielt die Augen offen nach etwas, das Rebekkas Haarfarbe nahe kam, und entschied sich für einen Sechs-Stufen-Aufheller, der ein Vanille-Blond versprach. Sie wusste zwar nicht, wann der Zeitpunkt zum Haarefärben kam, aber wenn er da war, wollte sie vorbereitet sein. Weiter ging es zur Kosmetikabteilung. Da sie sich bisher nie geschminkt hatte, war sie hier restlos überfragt. Es gab so viele Produkte und Vany sagten die Namen alle nichts. Sie hatte keine Ahnung, was der Unterschied zwischen BB Cream, Concealer oder Make-up war, wofür man Puder und ein mattierendes Finish brauchte. Schließlich entdeckte sie auf einem Verpackungskarton eine Frau mit dunkel geschminkten Augen. Fasziniert nahm sie die Packung in die Hand. Es handelte sich um eine Lidschattenpalette mit verschiedenen Grau- und Schwarztönen. Das Model war nicht ganz so extrem geschminkt wie die Männer und Frauen in den Musikvideos, es ging jedoch in die richtige Richtung. Vany reckte den Hals und winkte eine Verkäuferin heran, die irgendwie ganz cool aussah. Sie war wohl Anfang 20, hatte leuchtend rotes Haar und jede Menge Piercings.

      »Entschuldigung«, sprach Vany sie an. »Können Sie mir vielleicht sagen, was ich alles brauche, um so auszusehen?«

      Sie deutete auf das Gesicht auf der Verpackung. Die Verkäuferin ließ den Blick von Vany zur Packung und wieder zurück schweifen, und Vany befürchtete, dass sie ihr prophezeien würde, dass sie das niemals schaffen würde. Tatsächlich zog sie etwas skeptisch die Augenbraue hoch und fragte: »Schminkneuling?«

      Vany nickte und spürte, dass sie ein bisschen rot wurde, aber die Verkäuferin lächelte.

      »Pass auf, das hier nennt man Smokey Eyes und die perfekt hinzubekommen, braucht verdammt viel Übung. Wenn du es wirklich lernen willst, guck mal bei YouTube nach Schminktutorials. Da gibt es ein paar richtig Gute.«

      YouTube. Vany war, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen, ließ sich allerdings nichts anmerken. Trotzdem kam es ihr wie ein Wink des Schicksals vor, ohne zu verstehen, was das Schicksal ihr mitteilen wollte. Sie behielt den Kurs bei: »Danke für den Tipp. Das mache ich glatt. Zum Üben brauche ich trotzdem Material.«

      »Stimmt«, bestätigte die Verkäuferin. »Wie viel willst du denn ausgeben? Die Palette da ist nicht ganz billig. Wir haben auch günstigere.«

      Vany zuckte die Achseln. Nach ihrem Ausflug nach Köln war sie schon knapp bei Kasse.

      »Ah«, machte die Verkäuferin. »Wir fangen einfach mal an. Diese Make-up-Produkte sind speziell auf junge Leute abgestimmt und mit einem Mousse-Make-up solltest du auf Anhieb gut zurecht kommen. Dann brauchst du noch ein bisschen Puder und wenn du magst auch etwas Rouge. Lidschatten ist klar, Eyeliner … der braucht etwas Übung, aber es lohnt sich! Mascara und eventuell einen matten Lippenstift.«

      Vany sah zu, wie die Verkäuferin ihr Dinge hinhielt, nickte sie ab und ließ sie in den Wagen wandern. Dazu kamen ein paar Schwämme und Pinsel und Abschminkschaum. Vany wählte noch einen schwarzen Nagellack und Nagellackentferner aus. Schließlich war ihr Wagen ganz schön voll geworden. Sie spürte in sich eine tiefe Zufriedenheit und fing an zu begreifen, was Jazz an Shopping so toll fand. Sie bedankte sich bei der netten Verkäuferin und schob ihren Einkauf zur Kasse. Dort schluckte sie erst einmal über den Preis. Über 65 Euro musste sie für alles hinblättern, aber da sie gesehen hatte, dass es durchaus Produkte gab, die einzeln so viel kosteten, war sie zufrieden. Sie packte ihre Einkäufe ein und verließ gut gelaunt den Laden. Sie konnte es kaum erwarten, nach Schminktutorials zu gucken und die Sachen auszuprobieren, aber das musste noch ein bisschen warten. Vielleicht fand sie am Wochenende dazu etwas Zeit, denn die hellen Farbtöne ihrer Lidschattenpalette ließen sich bestimmt auch für »So tun als ob« verwenden, ganz ohne Misstrauen zu erregen. Immerhin war es eher ungewöhnlich, dass eine Sechzehnjährige sich nicht für Make-up interessierte.

      6: Mausbraun versus Vanille

      Am Samstag konnte Vany zumindest eine Stunde länger schlafen und das war notwendig nach einer kompletten Woche mit unterbrochenen Nächten. Auch in dieser Nacht hatte es kein Update auf Deckx´ Seite gegeben. Vany hatte trotzdem eine Stunde