Hanna Nolden

Let´s play love: Leon


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Ahlfelds Fingern zu desinfizieren. Der Gedanke an Rebekka erfüllte sie stets mit gemischten Gefühlen und die waren nur zu einem winzigen Teil gut. Vany schüttelte den Kopf. Für einen klaren Moment dachte sie daran, das Profil zu löschen und Deckx ein für alle Mal in Ruhe zu lassen, aber bei dem Gedanken geriet sie sofort in Panik. Obwohl sie es sich selbst nicht erklären konnte, brauchte sie Rebekka. Brauchte sie so sehr, wie sie Deckx´ Stimme und seine Let’s Plays brauchte.

      »Vany! Was machst du denn so lange? Das Essen ist fertig!«, rief ihre Mutter von unten.

      »Komme gleich!«

      Vany stellte den Föhn auf die höchste Stufe und trocknete rasch ihr Haar. Sie dachte noch darüber nach, eine Mütze aus dem Schrank zu holen, was natürlich Unsinn war, da ihre Familie das helle Haar früher oder später ohnehin zu Gesicht bekommen würde. Die hatte schon angefangen zu essen, weil sie so lange gebraucht hatte, und als sie nun das Wohnzimmer betrat, hätte sie schwören können, dass alle drei, ihre Eltern und ihr Bruder, ihre Gabeln fallen ließen.

      »Was ist denn mit dir passiert?«, stieß ihr Vater aus.

      »Vany, wow!«, machte ihre Mutter.

      Tim starrte nur. Vany setzte sich verlegen an den Tisch und brummte: »Es wurde mal Zeit für eine Veränderung. Mir gefällt’s irgendwie.«

      »Ja«, staunte ihre Mutter. »Es ist super geworden und wunderbar gleichmäßig. Als ich meine Haare zum ersten Mal gefärbt habe, sah ich aus wie ein Frischling. Voller Flecken!«

      Vany lachte, fuhr sich durchs Haar und fühlte sich selbst ein bisschen stolz. Das Tischgespräch nahm an Fahrt auf und obwohl Tim ihr ab und an irritierte Blicke zuwarf, schien er ihr das Haarefärben zumindest nicht übel zu nehmen.

      Nach dem Essen ging Vany in ihr Zimmer und holte den Laptop aus dem Kleiderschrank. Sie ließ die Tür offen, denn sie wollte durchaus, dass ihre Familie mitbekam, dass sie nicht Let’s Play-süchtig und durchaus in der Lage war, ihren Computer auch für andere Dinge zu nutzen. Sie reihte ihre neuen Kosmetikartikel auf dem Schreibtisch auf und schaltete die Kamera des Laptops ein, um sie als Spiegel zu benutzen. Dann ging sie auf die Suche nach Schminktipps für Anfänger. Drei Mädchen klickte sie weg, da sie ihr zu schrill und quietschig waren. Schließlich blieb sie bei einer Dame hängen, die in ihrer Infobox angab, dass sie Kosmetikerin war. Sie hatte eine angenehme Stimme, erklärte ausführlich und nicht so hektisch wie die jungen Mädchen aus den vorherigen Videos. Konzentriert folgte Vany den Anweisungen und obwohl ihr Ergebnis nicht ganz so akkurat war wie das der Fachfrau, war sie damit zufrieden. An Smokey Eyes traute Vany sich noch nicht heran. Das hier war etwas, das die Dame als »Alltags-Make-up« bezeichnete und Vany fand, für den ersten Versuch war es ihr gelungen. Durch das blonde Haar und den dunklen Mascara bekam ihr Gesicht viel mehr Ausdruck. Bisher hatte sie sich selbst immer blass und farblos gefunden, außer vielleicht, wenn sie erhitzt vom Platz kam. Jetzt sah sie richtig lebendig aus. Sie schoss ein Selfie mit dem Handy und schickte es Jazz per WhatsApp. Die Antwort kam prompt per Telefonanruf.

      »Boah, Vany, Wahnsinn! Was hast du gemacht? Ich hätte dich fast nicht erkannt! Du siehst fantastisch aus!«

      Vany lachte. »Jetzt übertreib mal nicht. Ich habe bloß was ausprobiert. Und meine Haare mit Bleiche desinfiziert, weil das Ekelpaket Dirk Ahlfeld da heute drin rumgewühlt hat.«

      Jazz gab Würggeräusche von sich. »Dieser Widerling! Wie hast du reagiert?«

      »Hab’s dem Trainer gesteckt. Geht ja mal gar nicht, dass der meine Mädchen und mich belästigt.«

      »Deine Mädchen?«, wunderte sich Jazz. »Wow. Du scheinst ja wieder voll auf Fußball abzufahren.«

      Jazz klang ein wenig enttäuscht und irgendwie versetzte Vany das einen Stich. Ihre unterschiedlichen Interessen waren bisher kaum ein Thema zwischen ihnen gewesen. Sie hatten den anderen trotzdem so respektiert, wie er war.

      »Hab sie lange genug im Stich gelassen«, entgegnete Vany und versuchte, sich die Verletzung nicht anmerken zu lassen. »Kommst du morgen zum Lernen rum? Dann kannst du dir meine Haare in echt ansehen.«

      »Und Make-up!«, trällerte Jazz begeistert. »Jaaaa, das mache ich glatt!«

      »Super. So um drei?«

      »Klingt gut. Machen wir.«

      Vany verabschiedete sich und drückte Jazz weg. Sie öffnete WhatsApp und betrachtete ein weiteres Mal Leons Profilbild. Kurz dachte sie darüber nach, auch ihm das Selfie zu schicken, dann traute sie sich doch nicht. Sie schaltete das Handy auf lautlos und wandte sich wieder dem Laptop zu. Sie war versucht, einen winzigen Blick in Deckx´ Kanal zu werfen. Sie sah sich sogar bereits um, ob auch niemand im Flur war, aber dann ließ sie es bleiben. Die Gefahr, erwischt zu werden, war einfach zu groß. Also fuhr sie den Laptop herunter und holte ihre Schulsachen heraus. Bestimmt gab es irgendwelche Zusatzaufgaben, die sie erledigen konnte. Solange der Laptop allerdings in ihrem Sichtfeld war, spürte Vany, wie er ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie wollte es eigentlich nicht, aber sie konnte nicht aufhören, über Rebekka und ihre Hobbys nachzugrübeln. Sie hatte so viele stimmungsvolle Fotos gesehen, während sie nach passenden Bildern für diese Fantasiegestalt gesucht hatte. Vielleicht mussten es gar nicht Billard und E-Gitarre sein. Vielleicht würde etwas Künstlerisches viel eher zu ihr passen. Melancholische Gedichte Schreiben zum Beispiel oder eben auch Fotografieren. Je mehr Vany darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr die Idee. Rebekka brauchte einen glaubwürdigen Hintergrund. Vany musste ihren Kanal mit etwas füllen, das sie interessant machte. Das funktionierte mit Billard nicht und obwohl Vany sich bestimmt eine Gitarre aus der Schule würde leihen können, war sie dadurch noch lange nicht in der Lage, sie zu spielen und irgendwelche Coversongs hochzuladen. Fotografieren traute sie sich jedoch zu und wenn sie nachmittags oder abends spazieren ging, war sie zumindest beschäftigt und nicht genötigt, ihrer Familie andauernd etwas vorzuspielen. Vany nahm sich vor, ihren Vater beim Abendessen nach der Digitalkamera zu fragen. Die Aussicht darauf gab ihr den nötigen Impuls, doch noch mit der Arbeit zu beginnen und richtig reinzuhauen. Als ihre Mutter zum Abendessen rief, hatte sie Zusatzaufgaben in Mathe und Englisch erledigt und war mit sich zufrieden. Dass sie sich geschminkt hatte, hatte sie völlig vergessen und wunderte sich über die Blicke ihrer Familie am Abendessentisch.

      »Wie eine richtige Dame«, stellte ihre Mutter mit glänzenden Augen fest und Vany fiel das Make-up wieder ein. Erschrocken hob sie die Hände ans Gesicht und hielt sich gerade noch in letzter Sekunde davon ab, sich die Augen zu reiben.

      »Krasse Veränderung«, kommentierte Tim, aber anders als bei den letzten Veränderungen, die er an Vany festgestellt hatte, schien ihm diese zu gefallen. »Total erwachsen siehst du aus.«

      »Und so gesund«, legte ihr Vater noch obendrauf. Vany spürte, dass sie errötete. So viel Aufmerksamkeit von ihrer Familie mochte sie nicht, ganz gleich, ob sie positiv oder negativ war.

      »Ist ja schon gut«, murmelte sie. »Hab halt mal was ausprobiert.« Sie angelte sich die Schale mit den Kirschtomaten und legte sich drei auf den Teller, als ihr einfiel, wie sie das Thema wechseln konnte. »Apropos Ausprobieren: haben wir nicht eigentlich eine Digitalkamera?«

      »Ja, die müsste im Schrank sein«, antwortete ihr Vater nach kurzem Zögern. »Wozu brauchst du sie?«

      Vany zuckte die Achseln, betont lässig, um sich nicht anmerken zu lassen, wie wichtig ihr Rebekkas Hobby war.

      »Ich kann im Moment nicht Fußball spielen, nicht joggen gehen, keinen Kraftsport machen und ich brauche eine Auszeit von Let’s Plays. Außerdem sagt Kerstin, dass ich viel spazieren gehen soll, um meine Muskulatur zu kräftigen. Da dachte ich, ich versuch’s mal mit Fotografie. Ist doch ein schönes Hobby, oder?«

      »Warum nimmst du nicht dein Handy?«, schlug Tim vor.

      »Das macht längst nicht so gute Fotos«, rechtfertigte sich Vany. »Wenn ich etwas mache, will ich es richtig machen. Und dafür brauche ich zunächst einmal eine richtige Kamera.«

      »Von mir aus kannst du sie gerne haben«, stimmte ihr ihr Vater zu. »Ich habe sie damals für den Spanienurlaub gekauft und nachdem keiner aus meiner Familie fotografiert werden wollte,