Hanna Nolden

Let´s play love: Leon


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die schillernde Rebekka McLight, die stets das Richtige tat und immer erreichte, was sie wollte. Aber das Wichtigste an so einem Superhelden war, die doppelte Identität aufrecht zu erhalten. Niemand durfte von diesem zweiten Leben wissen und damit sie es ungehindert aufbauen konnte, musste sie sich als Vany am Riemen reißen. Vany richtete sich auf und straffte die Schultern. Sie war ja schon auf dem richtigen Weg gewesen. Ihre Mutter hatte sie inzwischen auf ihre Seite gezogen und die anderen würden folgen. Sie musste sich bloß wieder einfügen, wieder unauffällig werden. Sie ging ins Bad und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Sie sah trotzdem furchtbar aus, was wohl verständlich war. Dann überlegte sie sich, welche Brocken sie Jazz hinwerfen konnte, damit sie zufrieden war und keine weiteren Fragen stellte. Eigentlich hatte sie ihr alles von Deckx erzählen wollen. Jetzt hatte sie ihren Plan geändert. Deckx musste ihr Geheimnis bleiben, so gut es ging. Vielleicht hatte ihr Tim auch davon erzählt, trotzdem musste sie so tun, als wäre Deckx ihr von einer Sekunde auf die andere egal geworden. Sie hörte, wie Jazz in ihrem Zimmer Getränke abstellte, trocknete sich ab und ging zu ihr.

      »Was ist denn jetzt wirklich vorgefallen zwischen dir und Leon?«, fragte Jazz unumwunden. Vany griff nach einer der beiden Mineralwasserflaschen, die Jazz mitgebracht hatte, schraubte sie auf und nahm einen großen Schluck, bevor sie antwortete: »Ich glaube, Leon nimmt mir sehr übel, dass ich mich vor den Zug werfen wollte.«

      Jazz zog eine Augenbraue hoch. »Ja, logisch. Das nehme ich dir auch übel! Und deine Eltern und dein Bruder vermutlich auch. Und ich bin trotzdem nett zu dir und bringe dich nicht zum Weinen. Ich weiß ja nicht. Ich glaube, er hat da irgendwas falsch verstanden. Schließlich wollen wir, dass es dir wieder gut geht, nicht, dass du es gleich wieder versuchst.«

      Vany lächelte traurig. Sie hatte Leon genau verstanden, aber Jazz wusste nicht, dass Leon seinen Bruder und seine Mutter bei einem Autounfall verloren hatte. Das wusste nur sie. Jazz indes fing gerade erst an, sich über Leon aufzuregen: »Ich meine, ich hätt’s mir irgendwie auch denken können. Er hat zwar behauptet, dass er dich mag, aber er war ja dabei, als Tim mich angesprochen hat. Und Tim hat erzählt, dass du zu diesem Let’s Player wolltest, den du so toll findest. Und dass du dich seinetwegen vor den Zug schmeißen wolltest. Also, womöglich ist er nur eifersüchtig. Was ich auch irgendwie verstehen kann, denn ich meine … dass Leon auf dich steht, war ja offensichtlich und ich dachte, du magst ihn auch. Warum also fährst du durch das halbe Land, um dich mit einem anderen zu treffen? Bloß, weil du Leon mit dieser Hundesitterin gesehen hast? Also, ich mein …«

      »Stopp!«, rief Vany und presste die Hände gegen die Schläfen. »Jazz, bitte! Du bringst mein Gehirn zum Platzen! Ich hab doch gesagt, ich hatte einen Kurzschluss. Ja, vielleicht spielt da auch mit rein, dass ich Leon mit dieser Trulla gesehen habe. Es war eine fixe Idee. Ich weiß auch nicht, was mich geritten hat. Ich wollte einfach weg, habe erfahren, dass ich woanders auch nicht willkommen bin und da … gab es halt nur noch diesen Weg. Aber das war ein Ausrutscher. Das passiert mir nicht wieder. Versprochen!«

      Jazz sah Vany abschätzend an. »Ich weiß nicht, Vany. Ich habe das Gefühl, du verschweigst mir etwas. Man kommt doch nicht von einem Tag auf den anderen auf die Idee, sich umzubringen! Und wenn man die Idee erst einmal hatte, ist sie doch nicht plötzlich weg.«

      Vany schloss die Augen. »Das ist sie. Ehrlich. Als ich begriffen habe, wie knapp ich davon gekommen bin, habe ich eine scheiß Angst bekommen. So eine Dummheit mache ich nicht noch einmal.«

      »Und dieser Let’s Player? Was ist mit dem?«

      »Mit dem bin ich durch.«

      Allmählich ging Vany Jazz´ Fragerei auf die Nerven.

      »Und dann? Konzentrierst du dich jetzt auf Leon?«

      »Nein!«, widersprach Vany vehement. »Ich werde mich auf mich konzentrieren. Darauf, gesund zu werden. Darauf, wieder ein Teil meines Fußballteams zu werden. Darauf, vielleicht nicht sitzen zu bleiben. Und eigentlich auch darauf, wieder mehr Zeit mit meiner besten Freundin zu verbringen. Sofern sie aufhört, mich mit Fragen zu löchern!«

      Jazz sah sie nur an und Vany erkannte, dass sie sie noch nicht überzeugt hatte. Also legte sie nach: »Jazz, bitte. Es ist schlimm genug, dass meine eigene Familie mich behandelt, als wäre ich eine tickende Zeitbombe. Mama hat sich halbwegs wieder eingekriegt, Papa spricht nicht drüber und Tim redet kein Wort mehr mit mir. Das muss ich wieder auf die Reihe kriegen, sonst bin ich nachher schuld daran, dass er sein Abi versemmelt. Es wäre also toll, wenn wenigstens zwischen uns alles wieder so werden könnte, wie es mal war.«

      Jazz sah sie weiterhin an und Vany befürchtete, dass sie noch eine Schippe würde drauflegen müssen, aber dann nickte Jazz.

      »Also gut. Ich habe dir versprochen, für dich da zu sein und das bin ich auch. Allerdings finde ich den Gedanken, dass du abgehauen und bis nach Köln gefahren bist, immer noch total krass. Geschweige denn, dass du dich vor einen Zug werfen wolltest! Das werde ich nicht so schnell abhaken können und ich hoffe, dass du es mir eines Tages erklärst. Wahrheitsgemäß und ausführlich, damit ich es verstehe.«

      »Mache ich, sobald ich es selbst verstanden habe, okay?«

      Jazz lächelte. »Ich glaube, damit kann ich leben. Und was hast du jetzt vor?«

      Vany zuckte die Achseln. »Ich werde morgen mit Frau Volckmann-Doose darüber sprechen. Genau dafür ist sie schließlich da und ich denke, ich werde ihr eine Chance geben.«

      »Wow«, machte Jazz anerkennend. »Das finde ich richtig klasse!« Sie umarmte die Freundin spontan. »Du machst das schon, Vany.«

      Vany erwiderte das Lächeln, zaghaft, unsicher. Ja, vielleicht. Vielleicht war der Plan wirklich gut, aber leider fühlte er sich vollkommen falsch an. Alles, was Vany wollte, war fliehen. Leons Ansprüchen entfliehen, Tims Schweigen, der Schule und Therapiesitzungen. Ihrem kaputten Knie und der ebenso kaputten Karriere. Fliehen und jemand anders sein. Und nur dieser Gedanke gab ihr in dem Moment Halt. Die Vorfreude auf das andere Leben, das auf sie wartete, sobald die Nacht anbrach und alles schlief. Sie konnte es kaum erwarten!

      4: Abserviert

      Den Rest des Tages verbrachte Vany in einer Art Dämmerzustand. Sie funktionierte. Sie gab ihren Eltern das Gefühl, dass alles in bester Ordnung sei und ging Tim aus dem Weg. In Wahrheit schossen die Gedanken wie Fußbälle durch ihren Kopf. Ständig kamen ihr Leons Worte in den Sinn, so sehr sie auch versuchte, sie zu verdrängen. In Dauerschleife sah sie ihn vor sich, wie er vor ihr in die Knie ging und sagte, was er gesagt hatte. Dabei wollte sie es nur vergessen, es verdrängen, es am liebsten ungeschehen machen. Sie versuchte, sich an Rebekka McLight festzuhalten. Wann immer ein Fußball mit Leons Namen darauf durch ihren Kopf schoss und gegen ihre Schädeldecke knallte, ersetzte sie ihn durch einen Rebekka-Ball. Sie erfand eine vollständige Biografie für sie, überlegte, auf welche Schule sie ging und welche Hobbys sie hatte. Es musste interessant sein, durfte dabei aber nicht unglaubwürdig werden. Vany fielen auf Anhieb haufenweise Sportarten ein. Tischtennis. Badminton. Rudern. Nichts davon schien so richtig zu passen.

      Billard, dachte Vany schließlich. Sie selbst hatte erst ein paar Mal in ihrem Leben Billard gespielt und zwei linke Hände dabei gehabt. Zu Rebekka passte es irgendwie.

      Außerdem, beschloss Vany, sollte sie Gitarre spielen. E-Gitarre natürlich.

      Die Konzentration auf die fiktive Gestalt Rebekka McLight half ihr, sich den Tag über im Griff zu behalten. Trotzdem überprüfte sie dauernd ihr Handy auf Nachrichten von Leon, doch der war ähnlich wie Deckx komplett offline. Fortwährend fragte Vany sich, was er tat oder wo er gerade war. Allerdings ging es ihr bei Deckx nicht anders. Der sauste auf die gleiche Weise als Gedankenfußball durch ihren Kopf. Er hatte verkündet, dass er vorläufig keine Let’s Plays hochladen würde. Aber das hieß nicht, dass er nicht spielte. Vany konnte sich nicht vorstellen, dass es so leicht war, das Zocken aufzugeben. Gaming und Let’s Playen waren so sehr Deckx´ Leben, wie Fußball ihres gewesen war. Sie stellte sich vor, wie er in seinem Zimmer saß, in eben dem Zimmer, von dem sie durch die Facecam einen kleinen Ausschnitt gesehen hatte, und irgendein Computerspiel spielte. Vermutlich nahm er dabei sogar auf und kommentierte, einfach, weil er es nicht lassen konnte. Wobei – wenn sie ihn so sehr aus der Bahn geworfen