Schatten des Grafen schwebte über ihm wie ein Damoklesschwert. Er hatte beschlossen, zum Wohle seiner Familie aufzuhören, nach dem Wer und Warum zum Mord an Marietta zu fragen, und sich einfach auf ein normales Familienleben zu besinnen. Dennoch holte ihn diese Sache ständig ein. Was hatte er vermeintlich verbrochen? Er hatte doch nicht mehr nachgeforscht!
Jamie schaltete herunter und bog in den Waldweg ab. Und was wollte Shannon nun schon wieder von ihm? Irgendwie holte ihn seine Vergangenheit gerade ständig ein. Martha hatte sich gewundert, dass er sich schon wieder alleine auf den Weg machte – an einem Samstagnachmittag, dem Tag der Familie. Dem Tag, den sie immer gemeinsam mit Mason und einem ausgiebigen Frühstück mit French Toast begannen. Und am Nachmittag zu zweit etwas unternahmen. Er musste nachher noch beim Baumarkt vorbeifahren und alibihalber irgendetwas kaufen, machte er sich eine gedankliche Notiz.
Was würde Martha sagen, wenn sie wüsste, dass er sich mit seiner Exfreundin traf? Normalerweise hatte er keine Geheimnisse vor seiner Frau. Er liebte sie abgöttisch – keinesfalls wollte er sie verlieren. Doch er konnte ihr weder von diesem geheimen Treffen erzählen, das sie nur in den falschen Hals bekommen würde, noch davon, dass der Graf ihn immer noch auf dem Kieker hatte. Oder dass er vielleicht sogar die Schuld an Masons Unfall trug, diese Bürde oblag ihm alleine. Sie würde verrückt werden vor Sorge. Automatisch schweifte sein Blick zum Rückspiegel, doch niemand folgte ihm.
Er parkte den Chrysler hinter der Hütte – Shannon war wie immer noch nicht da. Pünktlichkeit war nie ihre Stärke gewesen. Tief sog er die Luft in seine Lungen – den Geruch nach Moos, feuchtem Waldboden und Tannennadeln. Der Duft einer unbeschwerten Jugend. Langsam ging er durchs hohe nasse Gras um die Hütte herum. Die Holzbohlen der Terrasse waren morsch und glitschig, vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Der Himmel war heute bewölkt, ließ den See schwarz wirken, tief und unergründlich. Am seitlichen Ufer hing ein Strick, völlig zerfranst. Ob sich die Jugend heutzutage nicht mehr mit Seilen ins Wasser schwang? Gingen sie alle nur ins Freibad mit den zementierten Sprungtürmen und der riesigen Rutschbahn, die erst im letzten Sommer renoviert worden war? Wo blieb heute der Abenteuergeist?
Das Geräusch eines heranfahrenden Autos lenkte ihn ab. Shannon kam in einem schwarzen Mercedes CLS herangerollt. Langsam. Wahrscheinlich brächte ihr despotischer Mann sie um, würde sie einen Kratzer in einen der Wagen seines nicht unerheblichen Fuhrparks machen. Verächtlich schnaubte Jamie auf, dann zwang er sich zu einem Lächeln, als Shannon ausstieg. Sie sah wie immer aus der Entfernung umwerfend aus – auch in der relativ schlichten Kleidung mit schwarzer Röhrenjeans und pinkfarbener Bluse. Heute hatte sie sogar flachere Schuhe angezogen, zweifellos genauso teuer wie ihre hochhackigen von neulich. Doch ihre Laune schien ebenso im Keller wie das Mal zuvor.
»Jamie Collister, ich habe dich gewarnt«, keifte sie.
Jamie hob die Augenbrauen. »Ich wünsche dir auch einen wunderbaren Tag, meine Liebe.«
Sie hob den Finger. »Das ist nicht lustig, hör auf, hier wieder den Klassenclown zu spielen! Die Zeiten sind vorbei.«
Er seufzte. »Okay, was ist los?«
»Dein Sohn Mason hat meine Tochter Danielle geküsst!« Sie betonte jedes Wort.
»Ach?« Und deswegen bestellte sie ihn hierher? Er hatte sich nach den letzten Ereignissen schon weiß Gott was überlegt, was sie von ihm wollte.
Shannon fing an, sich in Rage zu reden. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«
»Die sind sechzehn, siebzehn, Herrgott noch mal. Vom Küssen kriegt man noch keine Kinder«, flachste er.
Doch irgendwie schien er damit in einen Fettnapf getreten zu sein, denn sie wurde zuerst blass, dann rot. »Wie kannst du darüber Scherze machen?«, hauchte sie.
»Hm? Was meinst du?« Verblüfft schaute er sie an.
Über Shannons Gesicht liefen widersprüchliche Empfindungen, doch sie ging nicht darauf ein, sondern schien sich wieder auf den Grund ihres Treffens zu besinnen. »Ich habe dir gesagt, er soll die Finger von ihr lassen. Er ist kein Umgang für sie.« Ihre Stimme überschlug sich fast.
Jamie merkte, wie er langsam wütend wurde. Er packte Shannon am Arm und zog sie ganz dicht vor sich. In ihren sorgfältig geschminkten Augen konnte er kleine rote Äderchen sehen. Auch den scharfen Geruch nach Alkohol, vermischt mit Pfefferminz, nahm er wahr. Keine Falte verunzierte ihre gelifteten Augen – alles war eine starre Maske.
Sie versuchte, sich von ihm loszureißen und schimpfte in einem fort, doch er zog sie nur näher an sich heran, dass ihre Körper sich fast berührten. Einen kurzen Augenblick schoss die Erinnerung an sie durch ihn. Wie sie sich an ihn geschmiegt hatte. Was war nur aus der Shannon von früher geworden?
Verärgert über die plötzlichen Gefühle, die ihn übermannten, war seine Stimme lauter als beabsichtigt, er brüllte fast. »Jetzt tu nicht so, als sei mein Sohn irgendein … Asozialer! Sag mir endlich, was eigentlich los ist! Dauernd diese obskuren Andeutungen, seit Jahren schon.«
Shannon zuckte zusammen und starrte ihn erschrocken an. Einen kurzen Augenblick zitterte ihre Unterlippe, sie blinzelte, dann hatte sie sich wieder im Griff.
»Lass mich sofort los!«, kreischte sie. Sie schlug nach ihm und er packte auch noch ihre freie Hand.
»Nein, erst sagst du mir, was hier eigentlich gespielt wird.« Er schnaubte. »Du lieber Himmel, unsere beiden fast erwachsenen Kinder küssen sich. Na und? Deswegen flippst du gleich aus?«
»Ich will ganz bestimmt nicht, dass es ihr so ergeht wie mir!«, fauchte Shannon.
Jamie zuckte kurz zurück. Meinte sie ihre Beziehung? Das hatte gesessen. Er schluckte.
»Was hab ich dir denn getan? Du hast mich damals verlassen, hast du das schon vergessen? Ohne mir einen Grund zu nennen!«
Sie schüttelte nur den Kopf.
Um Himmel willen, was war bloß passiert? Gut, er war damals vielleicht ein bisschen … wild gewesen, ja, und vielleicht auch nicht übermäßig sensibel, doch er hatte sie niemals betrogen oder schlecht behandelt. Oder hatte es nicht direkt mit ihm zu tun? Damals hatte sie sich auf einmal um 180 Grad gedreht. Warum war sie so … ja, richtiggehend panisch?
Shannon presste die Lippen zusammen und blickte auf den Boden, drückte mit der Sohle Muster in das vermooste Holz.
Seine Wut verrauchte und er lockerte seinen Griff. Auch Shannon schien in sich zusammengesunken zu sein. Unwillkürlich erwachte in ihm der Drang, sie in seine Arme zu ziehen, sie wirkte für einen Augenblick überhaupt nicht mehr wie die arrogante, neureiche Mrs. Holt, sondern wie die Shannon von damals. Er versuchte die Erinnerung abzuschütteln und trat einen Schritt zurück.
»Ich meine es ganz ernst«, sagte sie leise. »Sag deinem Sohn, dass er meine Tochter in Ruhe lassen soll!«
»Warum wendest du dich nicht an deine Danielle?«
»Ich habe ihr schon drei Wochen Hausarrest gegeben, aber ich kann sie doch nicht dauernd wegsperren! Ich hätte sie ja sowieso in ein Internat gebracht, aber ihre Granny …« Sie presste die Lippen zusammen und verstummte.
»Shannon, sei doch vernünftig. Was glaubst du, was passiert, wenn wir unseren Kindern verbieten, sich zu treffen? Ganz wegsperren kannst du niemanden. Das Verbotene macht doch doppelt Spaß. Und wenn sie etwas füreinander empfinden, dann kann man nichts dagegen machen.«
»Was spielt denn das für eine Rolle?«, stieß sie verbittert hervor.
Jamie packte sie wieder. »Jetzt sag mir endlich, verdammt noch mal, was eigentlich mit dir nicht stimmt!« Am liebsten hätte er sie geschüttelt.
Die nackte Angst in ihren Augen traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen.
Sie zitterte. »Du hast doch keine Ahnung, Jamie Collister«, flüsterte sie fast tonlos, dann riss sie sich los und floh zu ihrem Wagen.
Jamie war so verblüfft, dass er erst reagierte, als sie mit aufheulendem Motor und schlammspritzenden