Stück leisten? Mein ganzes Leben arbeite ich – und jedes Schulmädel kauft sich heutzutage teure Designerklamotten. Dieser Mantel war etwas ganz Besonderes und seine Pracht schien auf sie abzustrahlen. Der Schalk packte sie und sie wollte die Betreiberin plötzlich überraschen, ihr zeigen, dass sie eine Frau von Welt war. In einem Anflug von plötzlichem Wahnsinn sagte sie also:
»Er gefällt mir« und fügte nach einer Kunstpause hinzu: »Ich nehme ihn.« Nun strahlten beide Frauen.
»Er kleidet Sie wirklich sehr. Sie werden es nicht bereuen«, fügte die Inhaberin hinzu.
Kaum hatte sie den Mantel abgelegt, verschwand der Zauber. Sie sah wieder ganz unscheinbar aus und kam sich sogar pummelig und profan vor. »Ich brauche ihn also, diesen Mantel«, sagte sie sich. Es ging nicht mehr ohne. Und schließlich war da der Vortrag in der Volkshochschule. Da würde sie ein schlichtes schwarzes Kostüm tragen. Wie schön wäre es, diesen prächtigen Mantel darüber zu ziehen. Das wäre die rechte Einstimmung für die Zuhörer.
Ihr Entschluss, den Mantel zu erwerben, stand fest. Die Ladenbesitzerin faltete den kostbaren Stoff sorgsam zusammen und ließ ihn in eine edle Papiertüte gleiten, die schon allein etwas hermachte. »Ich muss völlig verrückt sein«, dachte sie, zückte ihre EC-Karte und tippte die Nummer ein. Es funktionierte und sie lächelte zufrieden.
Mit der vornehmen Tüte verließ sie den Laden und schritt beschwingt hinüber ins Brückencafé. Sie betrat den schönen hohen Raum und wählte einen großen Ohrensessel an einem kleinen runden Tisch. An der Theke bestellte sie einen Espresso und sah sich die Torten an. Eine mit einer großen, weißen Baiserhaube war ganz unwiderstehlich. »Was soll’s?«, dachte sie. »Irgendwann, wenn es etwas wärmer ist, werde ich mir dieses Stück wieder abtrainieren.« Während des langsamen Verspeisens der Torte sah sie sich immer wieder um. So viele liebevolle Details, die kleinen weißen Säulen, die grüne Tapete und das leicht verwohnte Mobiliar, Wiener Kaffeehausstühle. Es war alles so gar nicht von hier.
Die reizende Kellnerin brachte eine Wolldecke für ihre Knie, während sie in einem mitgebrachten alten Notizbuch blätterte, auf der Suche nach bestimmten Passagen, die sie in ihren Vortrag über die Wiener Moderne einarbeiten wollte. Hin und wieder schrieb sie einen Satz auf, googelte im Mobiltelefon nach Emilie Flöge und plötzlich war sie sich sicher, dass ihr Vortrag ein Erfolg werden und sie ihn immer weiter ausarbeiten würde. Sie würde sich spezialisieren und ihn irgendwann in Wien vor großem Publikum zum Besten geben, in der weißen Klimt-Villa in der Feldmühlgasse. Sie sah alles direkt vor sich.
Kurz entschlossen legte sie die Wolldecke zusammen, streifte ihre unscheinbare Funktionsjacke ab, nahm den Mantel aus seiner schönen Tüte, legte ihn sich um die Schultern. Leicht schlüpfte sie hinein und zog sich die Lippen nach. Danach erhob sie sich, um an der Theke zu zahlen. Die schnöde Jacke ließ sie in die Tüte gleiten und einfach neben dem Ohrensessel stehen, während sie das Café verließ.
Francisco Cienfuegos
Zwei-Komma-Neun
1.
Die Berger Straße
beginnt nicht
sie bahnt sich an
schleicht sich, immer schon da
auf leisen Sohlen heran
am Bethmannpark
entlang
erklimmt langsam
unbedacht
die Stadt
weckt die Sinne wach
nach und nach
Lange
lange vor der Abholzung der Bäume
war da ein Tal
darin ein Geäst
aufkeimender
Wasserläufe
Furche einst
im Wald
wild verschwiegen grün
Wiesenstück
Bornheimer Heide
Rinnsal leuchtend kühl
über Moos bewachsenen Stein
Einst waldumschlungen
Unterschlupf im Schatten
von Lärm und Schein
Traumphase
im Auge des Orkans
gezeugt in einem Wurmloch
im U-Bahn-Schacht,
das alle Zeit
allzeit miteinander vereint
Berger Straße
wie an unsichtbaren Fäden
hängend-schwebend
Von Blumentöpfen
wachgeküsste Fenster
blühende überreife Balkone
über hellgrau verblichene
Eingangstüren
und Treppenhäuser
2.
Gehsteig wie
knuspriger Blätterteig
der atmend aufgeht
gefüllt mit Stadtsplitter
bunt gesäumt
Frankfurt
erdichtet sich hier neu
das Jetzt zerstäubt
Paralleluniversum der Kleinläden,
Pizzerien, Teestuben
und Antiquitäten
Stück für Stück
jedes ganz
ein Stück Amsterdam
ein Stück Notting Hill
aber für sich
einzigartig insgesamt
Am Wochenmarkt
bekommt die Straße ein Gesicht
der Schrei in der Wüste
wird zu einem Lied
frisch aufgeschnittene Orange
die sich dem Gaumen aufdrängt
Knallig feucht
Geruchs-Feuerwerk
das auf der Zunge
wie Karamell-Holunder zergeht
zitronengelb
markant wilde Rose rot
Trauben stechend blau
Hinter weichem Kern
manchmal rau
Die Berger ist Verwandlungskraft
ein Trank aus Granatapfel und Ananas
eine Handvoll praller Erdbeeren
und der Mund voll Maracujasaft
und ein stilles Gewässer
wo sich Frankfurts Herzschlag
spiegeln kann
Eine Insel im tobenden Meer
in der die Bilder der Außenwelt
zerbröckeln
sich neu zusammenfügen
leiser sprechen
Es flieht vor jedem Wort
wie ein Strom aller Dinge