Jacques Derrida

Die Todesstrafe II


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      Dieses Begehren, zu töten (auf Seiten des möglichen oder des potentiellen Mörders), oder dieses Begehren, die Todesstrafe beizubehalten oder wiedereinzuführen – und auch das ist ein Begehren, zu töten –, in beiden Fällen ist dieses Begehren, zu töten, als Begehren sowohl jünger als auch älter als der Akt des Tötens. Es kann dem Akt des Tötens vorausgehen, ohne dass dieser als Akt statthat (ich kann begehren, jemanden zu töten, ohne ihn je zu töten oder ohne ihn je gemäß dem zu töten, was man als Mord [meurtre] in actu, als öffentlichen Mord [assassinat]22 oder als aktuelle, wirkliche, reale usw. Ausführung [exécution] bezeichnet und anerkennt); das Begehren, zu töten, kann auch älter sein als der Akt und den Akt überleben, selbst wenn der Akt, im geläufigen Sinne des Wortes, nicht stattgehabt hat. Ich weiß natürlich, und Sie werden es mir gleich sagen, dass das Recht [le droit] bisweilen der Absicht und dem Begehren stattgibt [fait droit à], wenn es zum Beispiel unterscheidet zwischen der absichtlichen Tötung eines Menschen [homicide] und der unabsichtlichen Tötung eines Menschen (das heißt ohne Absicht, also ohne Begehren, den Tod zu geben: es handelt sich dabei um jenes Konzept von Schlägen/Stichen/Schüssen [coups] und Verletzungen, die den Tod nach sich gezogen haben, ohne Absicht, ihn zu geben). Diese Berücksichtigung der Absicht und des Begehrens, des Begehrens, den Tod zu geben oder den Tod nicht zu geben, diese gesetzliche Berücksichtigung findet sich jedoch auf zweierlei Weisen an zwei Rändern begrenzt, wenn ich so sagen kann. Auf der einen Seite verlangt das Recht, dass es von dieser Absicht oder diesem Begehren, in Wahrheit diesem absichtlichen Nicht-Begehren oder diesem Begehren des Nicht-(den-Tod-geben), aktuelle Zeichen, Beweise oder Indizien in actu gebe: ausgeführte Handlungen [gestes] oder vermiedene Handlungen. Es handelt sich also um einen Akt, um eine Manifestation durch Akte. Auf der anderen Seite muss das fragliche Begehren oder Nicht-Begehren oder Begehren-nicht-zu… von dem herrühren, was man das Bewusstsein23 nennt, von der bewussten Wahrnehmung. Bislang hat sich das Recht untersagt oder war nicht in der Lage, in seine wesentliche Axiomatik eine Logik des Unbewussten oder des Symptoms zu integrieren, vor allem nicht ein anderes Denken des Akts (das heißt des Zusammenhangs zwischen dem Akt und seiner mutmaßlichen Anderen, dem Möglichen, dem Unmöglichen, dem Begehren, dem Denken, der Sprache), ein anderes Denken des Alters (das heißt der Zeit des Lebens und der Vielzahl an heterogenen Maßen, Ordnungen oder Weisen des Zählens)24; das Recht hat nicht mit diesem anderen Denken des Alters gerechnet, obwohl – wie Sie wissen, und das ist ein interessantes Symptom – der Strafdiskurs, insbesondere um die Todesstrafe herum, von der Frage des gesetzlich vorgeschriebenen Alters besessen ist, jenes Alters, ab dem es legal ist, zum Tode zu verurteilen oder einen Verurteilten hinzurichten. Das war, das bleibt Gegenstand endloser kasuistischer und rechtsgelehrter Debatten, dort, wo die Todesstrafe in einer Gesellschaft aufrechterhalten wird, in der der puritanischste Legalismus Hand in Hand geht sowohl mit der barbarischsten Grausamkeit als auch mit den ausgetüfteltsten Klügeleien über das Kriterium der Grausamkeit selbst. In den Vereinigten Staaten hat die Frage des straffähigen Alters, wenn man so sagen kann, in der Tat Antworten ausgelöst, über die wir heute nachdenken müssen. Als zum Beispiel der Oberste Gerichtshof (eine Instanz, auf deren Rolle und Bedeutung wir geduldig zurückkommen werden müssen, und ich werde das tun) im Jahre 1987 auf seine Entscheidung von 1972 (Fall Furman gegen Georgia), die die Todesstrafe für verfassungswidrig erklärte, zurückkam, nachdem er sich bereits 1976 einverstanden erklärt hatte, seine Ansichten zu revidieren (Entscheidung Gregg gegen Georgia), nun, als also der Oberste Gerichtshof im Jahre 1987 die Legitimität, die verfassungsgemäße Legalität der Todesstrafe bezüglich eines Schwarzen, der einen Polizisten getötet hatte, bestätigte und seine Ausrichtung anschließend verschärfte, indem er am 26. Juni 1989 mit 5 zu 4 Stimmen (wie 1972, aber im umgekehrten Sinne) erklärte, dass der Hinrichtung von zum Tode Verurteilten, die zwischen 16 und 18 Jahre alt sind, also Minderjährigen zum Zeitpunkt des Verbrechens, wie auch der Tötung von Individuen, die als „mentally retarded“ beziehungsweise geistig behindert gelten, nichts im Wege stehe. Zwei Jahre zuvor, 1985, hat der Bundesstaat Virginia einen schwarzen Landarbeiter auf den Elektrischen Stuhl geschickt, der 37 Jahre alt war, dessen geistiger Entwicklungsstand beziehungsweise mentales Alter25 von Experten jedoch auf 8 Jahre geschätzt wurde. Wenn Sie das von Austin Sarat herausgegebene Buch The Killing State lesen, werden Sie eine Vielzahl analoger Fälle finden.26 Zum Beispiel, um nur einen Fall zu zitieren, den Fall von Penry gegen Lynaugh im Juni [19]89. Penry war der Vergewaltigung und des Mordes angeklagt und zum Tode verurteilt worden. Zum Zeitpunkt des Verbrechens war er 22 Jahre alt, sein mentales Alter entsprach den Experten zufolge jedoch dem eines sechseinhalbjährigen Jungen, das heißt, ich zitiere annähernd, dass er die Lern- und Erkenntnisfähigkeit eines durchschnittlich sechseinhalbjährigen Jungen besaß. Das ist das „Mentale“, das sogenannte mentale, das heißt hier intellektuelle beziehungsweise verstandesmäßige Alter, in der Ordnung des Wissens, der Lehre, des Lernens und des Verstehens. Das „theoretische“ Alter, wenn Sie so wollen. In sozialer Hinsicht hingegen, das heißt vom Standpunkt seiner sozialen Reife her, das heißt seiner Fähigkeit, „to function in the world“, in der Gesellschaft zu handeln oder handlungsfähig zu sein, sozialisierbar zu sein, integrationsfähig, wie man so sagt, oder fähig zur sozialen Wiedereingliederung, in sozialer Hinsicht also war er drei oder vier Jahre älter, das heißt 9 oder 10 Jahre alt. Da haben Sie also einen Angeklagten, zum Tode Verurteilten, der mindestens drei Alter hatte, sechseinhalb Jahre (mentales Alter), 9 bis 10 Jahre (soziales Alter) und 22 Jahre (legales Alter). Der Anwalt der Verteidigung plädierte auf mildernde Umstände und behauptete, dass es verfassungswidrig sei, dem achten Zusatzartikel über „cruel and unusual punishments [grausame und ungewöhnliche Strafen]“27 zuwiderliefe, eine Person zu verurteilen und vor allem hinzurichten, deren Fähigkeiten derart uneinheitlich sind. Der Fall Penry spaltete den Gerichtshof in drei Lager. Vier Richter verwarfen die Notwendigkeit einer Revision und zusätzlicher Untersuchungen. Vier andere Richter vertraten die Ansicht, dass die Hinrichtung einer derart „retarded [zurückgebliebenen]“ Person wie Penry gegen den achten Zusatzartikel verstoßen würde. Der Richter O’Connor akzeptierte die verfassungsgemäße Notwendigkeit weiterer Untersuchungen im Hinblick darauf, mildernde Umstände festzustellen, lehnte jedoch den Rückgriff auf den achten Zusatzartikel ab.

      Wir werden diesen Prozess nicht noch einmal führen, aber wir müssen wissen, dass solche Fälle Legion waren. Was ich davon zurückbehalten möchte, ist nicht nur die unergründliche Schwierigkeit, ein oder gar mehrere Alter zu definieren, nicht nur die Schwäche, um nicht zu sagen die wesentliche Debilität des diesbezüglichen Expertendiskurses, das langsame-Hirn der Experten in Bezug [au sujet du] auf diese angebliche Reife oder Unreife des beurteilten Subjekts [sujet], sondern auch die Verbindung zwischen dieser Frage der Reife im Allgemeinen und der Verantwortung des Rechtssubjekts im Allgemeinen, zum Beispiel die, auf die sich die strengsten Diskurse (wie der von Kant) zugunsten der Einschreibung der Todesstrafe in das Recht beziehen. Was ist ein Alter und von welchem Alter an ist ein Subjekt rechtlich verantwortlich? Was ist das Alter des verantwortlichen Rechtssubjekts? Diese – gewaltige und klassische – Frage, auf die wir jeden Tag erneut stoßen werden28 und die die Frage selbst der Verantwortung dessen ist, was man ein bewusstes Rechtssubjekt vor dem Gesetz nennt, < diese Frage > befindet sich nicht nur durch die Vielzahl mentaler und sozialer Alter in jedem von uns auf schwierigem Kurs, wo sie allen Winden ausgesetzt ist, sondern auch, schlimmer noch, < durch die Existenz29> einer Differenz zwischen dem Alter des sogenannten mentalen oder sozialen usw. Bewusstseins und dem Alter – wenn es denn eines gibt – des Unbewussten. Gibt es eine Geschichte, eine Zeit und ein Alter des Unbewussten? Was würde ein Richter antworten, dem ein Experte sagen würde: „Dieser Angeklagte ist nicht älter und hat nicht mehr Zeit als das Unbewusste, das laut Freud keine Zeit kennt“, oder „Er verfügt über ein unbewusstes Alter von 6 Monaten, und es war dieses Unbewusste eines Neugeborenen, das getötet hat“? Wie auch immer die Antwort auf diese Fragen ausfiele: Gäbe es eine Übersetzung, einen irgendwie gearteten Übergang, eine minimale Homogenität zwischen den Altern des Unbewussten und den Altern des Bewusstseins, um vom Personenstand erst gar nicht zu sprechen? Wenn das Begehren oder die Tat [acte] eines Mörders (und wir müssen die beiden bereits unterscheiden, was nicht immer einfach ist) in Bezug auf eine Logik des Unbewussten immer älter, archaischer oder, was auf dasselbe hinausläuft, jünger, kindlicher, ja babyhafter sind als