tun; und wonach ich strebe, sind keine Töne. Ich muss erst etwas in meinem Herzen erlebt haben, um mich auf meinem Instrument ausdrücken zu können. Noch wage ich nicht, meine Hand zu bewegen und die Saiten zu berühren. Gedulde dich noch ein wenig und prüfe mich dann!«
Nach einiger Zeit erschien er wieder vor Xiang: »Jetzt habe ich es geschafft. Höre mein Spiel!« Es war Frühling; doch als Wen die Shang-Saite zupfte und den achten Halbton zur Begleitung anschlug, kam ein Wind auf, und die Sträucher und Bäume begannen Früchte zu tragen. Als er die Jue-Saite zupfte, die er mit dem zweiten Halbton begleitete, erhob sich eine leichte Brise, und die Bäume und Sträucher entfalteten ihre ganze Pracht. Als er in der Sommerhitze die Yu-Saite zupfte und sie mit dem elften Halbton begleitete, senkten sich Raureif und Schnee hernieder, und die Gewässer froren zu. Als er im strengen Winter die Zhi-Saite zupfte und mit dem fünften Halbton beantwortete, begann die Sonne zu sengen, und das Eis taute im Nu. Schließlich spielte er die Gong-Saite und vereinte ihren Klang mit dem der anderen vier Saiten; da säuselten liebliche Winde, Wolken des Glücks zogen herauf, süßer Tau fiel, und Quellen sprudelten kraftvoll hervor.
Die Legende vom Musikmeister Wen klingt zunächst wie eine der vielen Erzählungen der Naturvölker über die Macht der Musik. Hört man jedoch genauer hin, erfährt man, dass nicht der Klang der Musik als solcher die Kraft besitzt, die Natur zu beeinflussen; es muss vielmehr der menschliche Wille dazukommen, eine bedeutende Tat zu vollbringen. Ist er da, kann der Mensch sogar die Natur auf den Kopf stellen: Dann wird es durch sein Spiel auf der Zither im Sommer plötzlich ganz kalt und im Winter ganz heiß.
Ist der Mensch erst einmal davon überzeugt, dass er selbst derart große Wirkungen erzielen kann, so will er auch wissen, wie ihm das gelingt – und er entwickelt Theorien, mit deren Hilfe er die Regeln und Funktionsweise von Musik erforscht.
Auch die Legende von Wen kommt nicht ohne Musiktheorie aus. Da ist von fünf Saiten die Rede, die nach bestimmten Regeln gestimmt sind und die Namen Shang, Jue, Yu, Zhi und Gong tragen. Ferner wird angedeutet, dass es ein Tonsystem mit einer aus zwölf Halbtönen bestehenden Skala gibt.
Gong – Shang – Jue – Zhi – Yu: Diese Reihe entspricht unseren Tonsilben do – re – mi – sol – la oder: c – d – e – g – a. Wir reden von »halbtonloser Pentatonik« und gewinnen die entsprechende Skala, indem wir von einem Grundton aus eine Quint aufwärts, eine Quart abwärts, wieder eine Quint aufwärts gehen, und so weiter. Also zum Beispiel: c / g \ d / a \ e .
Das ist auch uns Europäern vertraut. Wir kennen es aus Kinderliedern wie Backe, backe Kuchen. Und eine Skala von zwölf Halbtönen ist uns ebenfalls nicht unbekannt: Wenn wir auf dem Klavier der Reihe nach alle Tasten anschlagen, die zwischen einer Oktave liegen, bekommen wir sie klanglich vorgeführt. Zwar trifft nicht zu, was man früher gern behauptet hat, dass nämlich die zwölf Töne der chinesischen Skala genau mit unseren zwölf chromatischen Halbtönen identisch sind. Aber zumindest gibt es große Ähnlichkeiten.
Grob gesagt, benutzt die chinesische Musik die fünf Töne do – re – mi – sol – la als Grundlage des Musizierens. Die Saiteninstrumente sind meist entsprechend der pentatonischen Skala gestimmt. Der größere Vorrat von zwölf Halbtönen ist freilich nicht überflüssig: Er erlaubt es, die Skala zu transponieren, also mit einem anderen Grundton, zum Beispiel cis, anfangen zu lassen: cis – dis – eis – gis – ais. Und außerdem dienen die chromatischen Stufen dazu, den Gesang durch Abweichungen von der Pentatonik interessanter zu machen.
Die chinesische Musiktheorie nimmt manche moderne Überlegung vorweg, hat aber vor allem Züge, die für die sehr alten Kulturvölker typisch sind: Jene Gesetze, welche die chinesischen Gelehrten über Musik aufgestellt haben, verstehen sich als Teil eines universellen Regelwerks, das den ganzen Kosmos beherrscht. Danach wurzeln alle Ordnungen, die wir kennen, im »großen Einen«, also in einer universellen Idee, die man zur Gänze weder wahrnehmen noch begrifflich fassen, jedoch in vielen unterschiedlichen Ausprägungen erleben kann. Die folgende Tabelle zeigt, wie man sich das Netzwerk kosmologischer Bedeutungen und Entsprechungen vorzustellen hat:
Töne | gong | shang | jue | zhi | yu |
Himmelsrichtungen | Norden | Osten | Zentrum | Westen | Süden |
Planeten | Merkur | Jupiter | Saturn | Venus | Mars |
Elemente | Holz | Wasser | Erde | Metall | Feuer |
Farben | schwarz | violett | gelb | weiß | rot |
Konfuzius, der große chinesische Weise, ließ sechs Wissenschaften gelten: das Ritual, das Bogenschießen, das Wagenlenken, die Schreibkunst, die Astrologie und die Musik. Bei ihnen allen kommt es auf ein Höchstmaß an Disziplin und Ordnung an. Und das war in China besonders wichtig: Das riesige Reich konnte nur zusammengehalten und einheitlich regiert werden, wenn es strenge, überall gültige Maße und Regeln gab, an denen niemand zu rütteln wagte.
Heerscharen von kaiserlichen Beamten waren für die allgemeine Ordnung verantwortlich. Unter ihnen gab es auch spezielle Musikbeamte, die man als musikalische Eichmeister bezeichnen könnte. Schon der legendäre Kaiser Shun, der um 2285 vor unserer Zeitrechnung an die Macht kam, befahl seinem Hauptmusiker Kui, das Musikwesen des Reiches zu ordnen und dafür zu sorgen, dass die Instrumente überall gleich gestimmt waren, die Blasinstrumente die vorgeschriebene Länge und den richtigen Rohrdurchmesser hatten usw. Wollte sich der Kaiser vergewissern, dass er seine Regierungsgeschäfte richtig und zum Wohl des Reiches durchführte, so lauschte er aufmerksam den fünf Tönen der pentatonischen Skala und den acht Arten der Musikinstrumente. Und er ließ sich die Oden des Hofes sowie die Lieder aus den Dörfern vorspielen, um festzustellen, ob sie der vorgeschriebenen Tonordnung entsprachen.
Dieser »staatstragenden« Funktion der Musik gemäß kam deren praktischer Ausübung an den Kaiserhöfen eine große Bedeutung zu. Kaiser Ming Huang (707–756) unterhielt eine Kapelle aus 1346 Musikern: eine Vorhut von 890 Gong-, Zimbel-, Trommel- und Blasinstrumentenspielern, einen Chor von 48 Sängern und eine Nachhut von weiteren 408 Musikern. Für die höfischen Tanzensembles gab es das Amt des Tanzmeisters Wushi und das Amt des Verantwortlichen für die Rinderschwänze – ein wichtiges Utensil für die zentralen Hofriten.
Vor ein paar Jahrzehnten hat man ein Gemälde gefunden, das den weiblichen Teil des Hoforchesters zeigt. Die Frauen musizieren auf Harfe, Laute, Zither, Flöte, Oboe, Mundorgel, Klapper, Sanduhrtrommel und großer Trommel. Ming Huang komponierte sogar selbst; und das Bild stellt möglicherweise die Aufführung des Liedes Der Duft der Li Dschu dar, das er für seine Lieblingsfrau Yang Gue-fe geschrieben haben soll.
Chinesische Hofmusiker lebten in relativem Wohlstand, aber auch gefährlich. Immer wieder hatten sie ihrem toten Herrn in die Grabstätte zu folgen. In einem um 433 vor unserer Zeitrechnung angelegten Grab des Provinzherrn Yi aus Hubei finden sich neben dem Verstorbenen die Überreste von jungen Frauen und von Musikern mit ihren Instrumenten.
Nicht alle Menschen waren mit dem Luxus, der am kaiserlichen Hof und von anderen Repräsentanten des Staates getrieben wurde, einverstanden. Schon im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung setzte sich zum Beispiel Mo-dsi, Begründer der Philosophenschule der Mohisten, für ein bescheidenes Leben ein. Die Verschwendungssucht der Vornehmen mache die Steuerlast der Armen noch drückender. Und durch Musik, so meinte Modsi, »werden die Hungrigen nicht satt, die Frierenden nicht gekleidet, die Müden nicht gekräftigt«. Von seiner Kritik ist freilich die Volksmusik ausgenommen, die weniger aufwendig und