der chinesischen Musikinstrumente haben in Europa Nachfolger gefunden. Eine Besonderheit stellt jedoch die Mundorgel Sheng dar. Sie besteht aus dreizehn und mehr Bambusrohren, die in einem gemeinsamen »Windbehälter« enden. In die Rohre sind durchschlagende Metallzungen eingelassen. Bläst der Spieler Luft in den Windbehälter oder saugt er Luft aus ihm heraus, geraten die Zungen in Schwingung und erzeugen Töne.
Allerdings ist der Vorgang nicht so einfach wie das Blasen auf einer Mundharmonika. Der Spieler muss nämlich, um das gewünschte Bambusrohr zum Klingen zu bringen, ein Loch abdecken, das an dem Rohrteil außerhalb des Windbehälters angebracht ist. Und bis heute wird von Akustikern darüber diskutiert, warum nur dann ein Ton erklingt, wenn dieses Loch abgedeckt wird. Natürlich kann man auf der Mundorgel Sheng auch mehrstimmig spielen – etwa eine pentatonische Melodie mit ostinater, das heißt gleichbleibender Begleitung.
CHINA IST NUR EIN BEISPIEL dafür, dass es schon lange vor dem europäischen Mittelalter Hochkulturen mit fundierter Musiktheorie und hochorganisierter musikalischer Praxis gibt. Dass die chinesische Hofkunst – von der traditionellen Volksmusik wissen wir recht wenig – in unseren Ohren gemessen und distanziert klingt, hängt mit der Bedeutung zusammen, die sie im Staatswesen hatte: Ohne geordnete Musik kein geordnetes Gemeinwesen. Für einen pulsierenden Rhythmus, für individuelles Musikantentum ist da kein Platz: Alles ist vorgeschrieben, und dem Einzelnen bleibt kaum Bewegungsfreiheit.
Trotz alledem lässt sich von der chinesischen Musik viel lernen. Wer etwa Gitarre spielt, nennt deren sechs Saiten mit den Tonbuchstaben e – a – d – g – h – e. Und das klingt ziemlich trocken. Wie wäre es, wenn man mit den Saiten die Vorstellung von Farben verbinden würde: Schwarz, Blau, Violett, Gelb, Weiß, Rot? Oder von Himmelsrichtungen: Osten, Südosten, Süden, Südwesten, Westen, Nordwesten. Oder aber von Feuer, Erde, Wasser, Stein, Licht und Luft?
Dergleichen scheint heute höchstens etwas für kleine Kinder zu sein, denen man rote oder blaue Punkte auf das Griffbrett klebt, damit sie auf anschauliche Weise Gitarrespielen lernen. Doch in Wahrheit steckt viel mehr dahinter: Wer mit einer Gitarrensaite die Vorstellung »Rot«, »Venus«, »Frühling«, »Feuer« verbindet, kommt schnell von der Auffassung weg, Musik sei bloßer nichtssagender Klang, und wird daran erinnert, dass Musikmachen bedeutet, Teil des Universums mit seinen unendlich vielen Erscheinungen zu sein. Dann kann man sich vorstellen, man bringe mit seiner eigenen Musik ein Stückchen Ordnung in die große Unordnung, die wir Menschen in der Welt immer wieder anrichten.
Auf anderen Feldern ist man da schon weiter. So hat sich inzwischen auch im Westen das »Qi-Gong« durchgesetzt, eine Art meditativer Selbsterfahrung mit körperlichen Übungen und Musik. Da finden auch Erwachsene nichts dabei, wenn solche Übungen »Reiten des wilden Pferdes« oder »Der doppelte Drachen springt aus dem Meer« heißen, fühlen sich vielmehr an ganzheitliche leib-seelische Erfahrungen angeschlossen.
Manche europäischen Komponisten haben sich einen Sinn bewahrt für die kosmologischen Zusammenhänge, von denen hier die Rede war. Antonio Vivaldi schrieb einen Zyklus von vier Violinkonzerten, der seinen Hörern die Vorstellung von Frühling, Sommer, Herbst und Winter in Tönen nahebringen soll. Von Dietrich Buxtehude, einem Lehrer Johann Sebastian Bachs, stammen sieben Klaviersuiten mit dem Titel Die Natur oder die Eigenschaft der Planeten. Und Alexander Skrjabin komponierte Musik für ein Farbenklavier. Bis zu seinem Tod im Jahr 2007 war Karlheinz Stockhausen, ein ebenso interessanter wie umstrittener Komponist, damit beschäftigt, die letzten Teile eines gewaltigen musikdramatischen Zyklus mit dem Titel Licht. Die sieben Tage der Woche zu vollenden.
Von Mönchen und Spielleuten
Die Musik im europäischen Mittelalter
Vieles aus der Musik der Naturvölker und der alten Reiche lebt im europäischen Mittelalter fort. Auch dieses kennt Sagen von der Macht der Musik. So ist in dem aus dem 13. Jahrhundert stammenden Kudrun-Lied vom Helden Horant die Rede, der durch seinen bezaubernden Gesang das Herz der schönen Hilde von Irland für seinen Herrn, König Hettel von Dänemark, gewinnt. Doch damit nicht genug: Weder Gesunde noch Kranke können aufhören, Horants Melodien zu lauschen; die Tiere verlassen den Wald, die Würmer vergessen, sich durchs Gras zu winden, die Fische hören vor Entzücken auf zu schwimmen. Gegen Horants Stimme verblasst sogar der Chorgesang der Geistlichen, und die Kirchenglocken klingen nicht mehr so schön wie zuvor.
Ferner ist auch dem Mittelalter die Vorstellung nicht fremd, dass in Gottes großer Schöpfung alles aus einem komme und alles miteinander zusammenhänge. In der Bibel heißt es, Gott habe die Welt nach Zahl, Maß und Gewicht geordnet, und folglich suchen die gelehrten Mönche Übereinstimmungen zwischen den Proportionen, die im Kosmos herrschen, und denjenigen, welche sie in der Musik erkennen. Sie gehen davon aus, dass es Sphärenklänge – die »musica mundana« – gibt, die der Mensch beständig mit seinem inneren Ohr hört und die er unwillkürlich in die eigene Musik umsetzt. »Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang«, dichtet noch Goethe in seinem Faust.
Da wundert man sich nicht über die Stellung, welche die Musik unter den sieben freien Künsten des Mittelalters hat: Sie zählt mit Geometrie, Arithmetik und Astronomie zum »Quadrivium« der rechnenden und messenden Künste, dem das an der Sprache orientierte »Trivium« von Rhetorik, Grammatik und Dialektik gegenübersteht.
Ein besonders interessanter Vergleich lässt sich zwischen der Machtpolitik des europäischen Mittelalters und derjenigen der alten Reiche ziehen: Hatte die streng genormte höfische Musik zum Zusammenhalt des chinesischen Riesenreiches beigetragen, so übernimmt im karolingischen Reich der gregorianische Choral einen Teil dieser Funktion. Gemeinsam mit der lateinischen Sprache soll er für einen einheitlichen christlichen Ritus in ganz Westeuropa sorgen – in Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland, England, Schottland, Irland und Skandinavien. Auf diese Weise soll nicht nur der Bestand des Papsttums und der römischen Kirche gesichert, sondern auch die weltliche Herrschaft von Karl dem Großen und seinen Nachfolgern auf dem Kaiserthron legitimiert werden. Dahinter steht die Hoffnung, dass Menschen, die jeden Sonntag auf dieselbe Weise die Messe feiern und den gleichen Gesängen lauschen, sich einem großen Ganzen zugehörig fühlen und nicht gegen die kirchliche oder weltliche Zentralmacht aufbegehren.
Doch vor allem in den germanischen Ländern, die zunächst von den Römern und später von den Karolingern unterworfen und oft mit Gewalt zum Christentum »bekehrt« worden sind, ist eine solche Idee nicht unumstritten. Noch in dem bereits erwähnten Kudrun-Lied wird der Gesang des germanischen Helden Horant über den Gesang der katholischen Kleriker und ihr Glockengeläut gestellt. Und obwohl die alten germanischen Bräuche seit dem 8. Jahrhundert von den herrschenden Karolingern streng verboten und fast alle Aufzeichnungen über heidnische Kulte verbrannt worden sind, gibt es immer wieder Proteste gegen die katholische Messe.
So ist in mittelalterlichen Chroniken von einem rituellen Reigen die Rede, den im Jahr 1020 aufrührerische Bauern auf dem Kirchhof des mitteldeutschen Dorfes Kölbingk tanzen, um die Weihnachtsmesse zu stören. Eine dazu überlieferte Gesangsstrophe lautet:
Ritt einst Bowo durch den Wald so grüne,
führte mit sich Merswint die Schöne.
Was stehn wir? Warum nicht gehn wir?
Der Sinn dieser Zeilen ist unklar; jedoch hielt die damalige Obrigkeit die Aktion in Kölbingk für so gefährlich, dass sie die Legende ausstreuen ließ, der erzürnte Priester habe die Bauern dazu verdammt, ein ganzes Jahr durchzutanzen.
Es gibt auch andere Zeugnisse dafür, dass das germanische Brauchtum im christlichen Mittelalter nicht völlig untergegangen ist. Selbst das gelegentlich noch heute zu hörende Spiellied
Ringel, rangel, reihe,
sind der Kinder dreie,
sitzen unterm Hollerbusch,
machen alle husch, husch, husch
ist nicht so »harmlos«, wie es den Anschein hat: Der Holler- oder Holunderbusch steht für die altgermanische Frau Holda oder Frau Holle, die ursprünglich eine Göttin der Fruchtbarkeit war und später unter dem Einfluss des Christentums zur Anführerin der Schar ungeborener Kinder wurde, die als elfen- oder hexenhafte