der Neid ihm lassen.
»Ich habe mich noch nicht endgültig entschieden«, sagte ich. Zwang mich zur Ruhe. Sammelte meine Gedanken. Merkte wieder: Ich wollte ihn nicht mögen, aber … warum eigentlich? Fand ich den Mann vor mir zu gelassen? Zu zufrieden? Auf falsche Art einnehmend? Lächerlich? Ich konnte es nicht einordnen. Ich fühlte nur den Widerstand in mir.
»Nun, es wird langsam Zeit. Dennoch, also, ich kann dir sagen: Ich bewundere dich! Nur wenige halten so lange aus. Und es lohnt sich! Man nimmt etwas … Fantastisches mit sich, einen starken Willen, eine tiefe Einsicht … Ich weiß, was ich sage, ich war ja auch mal richtig, richtig alt – du erinnerst dich …«
Er lächelte, fast entschuldigend, fast schüchtern. Kannte ich den Ausdruck in dem Luxusgesicht vor mir von seinem alten Ich? Ich fiel dem Gedanken an Hein in die Vergangenheit hinterher, landete woanders, erinnerte mich an abfahrende Metrobahnen. An eine verpasste Fähre. An das Dunkel des Meeres am Anleger, an dem ich einmal mit Jay die Nacht verbringen musste. Wie schön das war. Wir froren, waren endlos jung. Das Leben lag vor uns, wie das dunkle, unergründliche Meer damals. Die »Gruftis«, wie wir sie nannten, waren uns fern vorgekommen, fremd. Wie der Blick des alten Hein, der, in meiner Erinnerung, an irgendeiner Wand lehnte, müde. War es vor dem Haus, in dem er wohnte – was war da, damals, in seinen Augen? Ich versuchte, meine Erinnerung scharf zu stellen. War sein Blick lüstern? War er bitter? Oder beides?
»Du bist viel-lei-eicht die jüngste Frau ü-ber-haupt, du – ach was, das ist ja Quatsch! Ich übertreibe gerne, aber die jüngste der Vorgeborenen, vielleicht. Die letzte Frau, die noch nicht den ersten Schritt getan hat? Könnte das sein? Soll ich die Assistentin fragen? Nein? Ist auch egal … Magst du was trinken? Tee? Saft? Und ich muss jetzt doch nachhaken: Wie kann ich dir helfen? Dich zu entscheiden?«
»Es fällt mir schwer.«
An der Wand hinter ihm hing ein Spiegel. Ich sah mein Gesicht. Wie so oft erkannte ich mich nicht recht, obwohl ich wusste: Das ist mein Widerschein, das bin ich. Licht werdendes Haar, schmutzig weiß. Runzeln überall. Eingefallene Wangen, Augensäckchen. Ein bisschen Doppelkinn. Statt der Lebensfreude, die in Heins Augen spielte, boten meine aber … einen gewissen Trotz. Stolz. Behauptete ich mir gegenüber jedenfalls. Ich glaube, im Grund zeigten sie Müdigkeit. Kalte, abgekämpfte, abgenutzte … Schwäche. Und Scham. War es das im Ausdruck des alten Hein, was ich … woran mich erinnerte? Was ich sah? Gesehen hatte?
»Es fällt mir einfach schwer.«
»Wie gesagt, ich verstehe das … Der erste Schritt ist der schwerste.« Hein summte eine Melodie, zeigte eine ernste Miene, eine andere Seite von sich. Machte er sich tatsächlich Gedanken darüber, wie er mir »helfen« könnte?
»Naja, die Alternative ist nun wirklich grässlich und menschenunwürdig, falsch – aber das weißt du ja.«
Hein legte kurz die Hand ans rechte Ohr, die Assistentin sprach wohl privat zu ihm. Die Repräsentation im Kubus sagte bei vorgehaltener Hand etwas in ein historisch aussehendes Minitelefon mit Holokabel. Sie bemerkte meinen Blick und winkte mir mit einem entschuldigenden Lächeln zu, wobei sie mit den Schultern zuckte. Frauensolidarität, hm?
»Mir wurde gesagt, ich werde eventuell … beeinflussend. Bedrängend. Verzeih. Verzeih. Wirklich. Ich beantworte gerne alle deine Fragen. Die Entscheidung kann ich, darf ich dir natürlich nicht abnehmen. Ich darf auch keine Empfehlung aussprechen. Aber dir ehrlich über meine eigenen Erfahrungen berichten, dir Antworten geben, das kann ich machen. Dies ist inzwischen mein vierter Körper, ich bin also – relativ – erfahren!«
Sein vierter Körper. Ich sah ihm in die grünen, meinen Blick direkt erwidernden Augen und versuchte erneut, mich an den Ausdruck in denen des hinfälligen Männleins zu erinnern. Es gelang mir nicht. Ich presste die Lider zusammen. Strengte mich mehr an. Der alte Hein trug damals immer eine Brille. In meiner Erinnerung saß er auf einer Bank am Fluss, unweit von unserer Wohnung. Hustete trocken vor sich hin. Fummelte an der Brille herum, sah, die Brille umständlich wieder aufsetzend, einem jungen Mädchen hinterher, etwas älter als ich … war es Eva? Der Wind fegte durch die Herbstblätter. Ihr Rock umflatterte lange Beine. War sein Blick hart? Furchte sich eine Träne durch sein Gesicht? Hein klatschte in die Hände.
»Soll ich dir erst mal die Kassenmodelle zeigen? Hm?«
Ich schlug die Augen auf. Der Schokohein lächelte mich viril auffordernd an, während er aufstand, nein, auffederte, und meine Hand griff, mich praktisch vom Stuhl zog. Als er merkte, dass ich wegen des Tempos schon beim Erreichen der Tür außer Atem war, husten musste, wurde er langsamer, entschuldigte sich. Er führte mich einen steril wirkenden Gang entlang, durch eine weiße Tür. Der Raum war groß, der Boden weich. Ein filigranes, an maurische Architektur erinnerndes, ästhetisch schmeichelndes Gitter trennte den schmalen Besucherbereich ab. Die Leuchtelemente waren auf unserer Seite angebracht. Das Licht fiel durch mehrfarbige Filter, was ein anregendes Spiel aus Helle und Schatten bedingte. Wir sahen sie durch die Lücken.
»Das sind sie: Adam und Eva!«
Hein legte mir eine Hand auf die Schulter, blickte in den abgegrenzten Raum, kicherte in sich hinein. Leise. Sein Gesicht wirkte hell, verstehend, aufgeschlossen. Er wird den … Witz schon oft gemacht haben. Er amüsierte sich dennoch, echt, ohne Übertreibung.
In dem … Gehege … hielten sich zwei junge Leere auf, ein Weibchen und ein Männchen. Sie waren gleich groß, wirkten wie Teenager, spielten nackt zwischen farbenfrohen, über den Raum verteilten Kissen. Es gab auch ein paar gebogene, farbige Röhren, durch die sie wohl gerne krabbelten. Die Wände zierte eine Landschaftstapete, die einen lichten Wald mit Blumen und anderen Farbtupfern zeigte. Die Szene wirkte märchenhaft. Die beiden Leeren setzen sich hin, erschöpft schnaufend. Glücklich? Das Männchen strich dem Weibchen durchs Haar. Das Weibchen sah zu uns herüber. Nein, sie sah Hein an. Fand sie ihn attraktiv?
»Du hast echt Glück! Das sind mit die letzten Mann-Frau-Kassenmodelle – sobald die Geschlechtslosen freigegeben sind, wird man für die Sexoption ex-tra zahlen müssen! Und das wird schon sehr bald der Fall sein!«
Ich schoss einen Blick in sein Gesicht. Er sah mich kurz fragend an.
»Ich denke mal, du willst ein besseres Modell, ein paar Extras?«
Ein besseres Modell. Hein konnte sich, wie ich sah, alle möglichen »Extras« leisten. Wut kochte in mir hoch. Naja, köchelte. Mein Temperament war mit den Jahren … abgekühlt. Ich sah wieder zu den Kassenmodellen. Sie hätten Zwillinge sein können, waren von fast gleicher Statur, bis auf die Geschlechtsteile so gut wie identisch. Die Gesichter wirkten … unfertig. Breit. In der besseren Gesellschaft, in Kuratorenkreisen beispielsweise, konnte man sich damit kaum sehen lassen.
»Wie alt sind diese Modelle?«, fragte ich.
»Vier Jahre, diese beiden wurden letzte Woche freigegeben. Die übliche Nutzungsdauer liegt bei fünfundzwanzig bis dreißig Jahren …«
»Was gibt es für Extras?«
»Im Grunde – was du willst! Echte Sondermodelle müssen, ist ja klar, vorbestellt werden, da ist die Reifungszeit sogar etwas länger – und so viel Zeit hast du eher nicht mehr … Äh, verzeih. Verzeih, wenn ich eine ungerechtfertigte Annahme gemacht habe. Es war nicht meine Absicht. Also … Im Lager haben wir aktuell verschiedene Haar- und Hautfarben, auch einfache Mehrwertmodelle mit Schlankgen, Leistungskörper … Und ein paar Signaturmodelle, von früheren Stars entworfen. Ich glaube, es gibt auch noch ein oder zwei vom Hype übrig gebliebenen Richard-Gere-Männchen, schon ein wenig gealtert, aber … du willst ja wohl einen Frauenkörper, es …«
»Ich bin noch nicht sicher.«
Ich wandte mich wieder dem Gatter zu. Trat leicht erschrocken einen Schritt zurück. Das Leermännchen stand direkt vor mir. Sah mich durch das nette Lochmuster an. War da so etwas wie … Neugierde? Es bleckte die Zähne, blickte – aggressiv? Fühlte es sich eingesperrt? Schlecht behandelt?