Cory Doctorow

NOVA Science-Fiction 29


Скачать книгу

Ende.

      »Immerhin, eine Entscheidung«, murmelte ich. Haha.

      »Der Tod bedingt unsere Heimat in der Zeit«, hatte Phil betont. Immer wieder. Phil hatte ich nach der Trennung von Hatou auf einer Anti-Klon-Veranstaltung getroffen, wie man das damals nannte. »Klone« waren die Leute, die ihre Hirne in junge Zuchtkörper setzen ließen. Wir waren gegen die »Scheiß-Alten, die den Löffel nicht abgeben wollen«, an ihrem »kleinen bisschen Restleben« hingen und deswegen zu Verbrechern gegen die natürliche Ordnung wurden. Phil sah gut aus, war eloquent, hatte eine vielköpfige Gefolgschaft. Er sprach voll Elan und Leidenschaft über das Leben in Harmonie mit der Natur, über die Freuden des Teilhabens am Werden und Vergehen, den kreativen Akt der Kinderzeugung und -erziehung, den angestammten, versprochenen Platz des Einzelnen im umfassenden, Sinn gebenden Muster. Heute würde ich sagen, das Ganze war religiös angehaucht, eventuell stand auch der Wunsch, eine Elite zu sein, dahinter, aber damals …

      Für mich war wichtig, dass ich mich aufgehoben fühlte. Aufgefangen. In einer Familie, einem Clan mit, hm, elitärem Wissen, im ausgewählten Stamm. Ja. Dem ich, an Phils Seite, voranschritt. Es war eine schöne Zeit. Unsere Aktionen waren friedlich, sogar poetisch. Wir förderten temporäre Kunstwerke, hielten Lesungen in Bäumen ab, richteten gemeinsame Feiern mit Lesungen aus, unter freiem Himmel, bei jedem Wetter. Wir priesen das Leben als Fluss, als Abfolge unvermeidlicher und ergo richtiger, nötiger Ereignisse. Geburt. Zeugung. Helfen. All das verstanden wir als Gegebenheiten. Wir begriffen den Tod als unsere Natur, verstanden, dass er unsere Seelen heller brennen ließ, und schrien »Nein« zur Loslösung des Menschen aus der guten Mutter, der Heimat Natur. Laut. Die Leute redeten über uns, wir galten als radikal, wandten uns sogar, soweit möglich, von den technischen Assistenten ab, deren »Intelligenz« wir als »kalt« oder »falsch« betrachteten, deren behauptetes »Bewusstsein« als Imitation, als Lüge. Sie hatten das Körperersatzprogramm gestartet. Erfunden. Ermöglicht. »Unsere Natur verändert«, wie wir Klongegner meinten.

      »Nur durch die Erkenntnis der eigenen Endlichkeit, die bedingt, dass man erkennt, wir sind Teil von etwas Größerem, sind hier, um anderen zu helfen, Leben zu geben, zu zeugen, das Richtige zu tun und durchzusetzen, wird man erwachsen. Kann man wirklich helfen. Verantwortung übernehmen. Und nur darin liegt das wahre Glück, die wahre Belohnung, der tiefe Trost. Der sogenannte dauernde oder unsterbliche Mensch ist eine Hybris, ein ewiges Kind und ewig ohne Konsequenz«, sagte Phil, und ich glaubte ihm. »Der Tod ist unser Freund, unser Gevatter, der unserem Leben Sinn gibt. Und nun soll er nicht mehr sein? Wie können wir dann noch sein?«, rief Phil und sprach damit vielen aus der Seele. Doch als ich zum ersten Mal einen alten Menschen in den Tod begleiten sollte, meinen »Todfreund« …

      Es war eine Feierlichkeit, die Phil sich ausgedacht hatte. Es sollte gezeigt werden, dass man friedlich, harmonisch sterben konnte, dass ein solcher Tod vorgesehen war, von unserer Natur. Er wollte das Sterben öffentlich machen, um ihm seine Schrecken zu nehmen. Ihn zu propagieren. Ich hatte die Videos von den ersten solchen Feiern oder Ritualen gesehen, bei denen Phil selbst der Begleiter war. Es funktionierte. Hatte funktioniert.

      Aber bei mir stimmte etwas nicht. Es gab in Wirklichkeit keine Harmonie. Keinen Ernst. Keine Akzeptanz. Weder der Sterbende noch ich empfanden, was geschah, als Befreiung, als Erfüllung oder Erlösung, wie Phil es prophezeit hatte. Wie es in den Videos gewesen war. Es war, stattdessen … falsch. Grausam. Ich denke, der Sterbende tat sein Bestes, versuchte, friedlich zu gehen, aber … Phil sagte, der Todfreund hätte sich falsch verhalten, wäre kindisch geworden, die Lügen der Gesellschaft hätten ihn am Ende eingeholt. Und später … Die Schreie, diese unmenschlichen Schreie, die gar keine waren, eher ein verzweifeltes … Wüten. Sie hallen noch immer in mir nach.

      Nach dem Anschlag auf den Körpergarten verließ ich Phil und die »Freunde des Zyklus«, wie sie sich nannten. Ich konnte nicht mehr. Ich … So lächerlich es klingt, ich wurde Vegetarierin, aus einem Gefühl der Schuld. Weil ich getötet hatte. Als Teil eines Kollektivs, ja, aber …

      »Liebe die Existenz, nicht die Maschine«, hatte Hein gesagt, als er mich zum Abschied umarmte. »Maschine« – aktuell ist das ein geläufiger Name für die Natur, die reproduktive Natur, aus der sich der Mensch löste, indem er »dauerhaftes Individuum, Möglichkeit ohne Vernichtung« wurde, wie einer der Clipmods sagte, um das Bild einer schönen neuen Welt in die Hirne der Leute zu brennen. Wie stand ich dazu?

      Kritisch. Auch wenn meine anfängliche Abneigung gegen die »Körperfresser«, wie Phil sie privat genannt hatte, eher auf einer persönlichen … Beleidigung beruhte, gab es doch viel zu kritisieren. Ich gebe Phil in manchem noch immer recht, das Brennen im Leben ist doch sicher der Kürze des Seins geschuldet, die Flamme, die kurz brennt … Nein. Ich hatte das geglaubt, damals. Jetzt … würde ich nicht einmal mehr sagen, meine Flamme hätte je so heiß gebrannt, wie ich es wollte. Oder dachte. Weil ich zu lange gelebt habe, richtig, Phil? Haha.

      War mein Widerstand damals, der durchaus breite Widerstand in meiner Altersgruppe gegen die individuelle Dauerhaftigkeit, nicht auch eine Art Trotz gewesen? Eine Verletztheit, da wir, als Generation, überholt worden waren, nicht mehr die Zukunft besaßen, da sie nun allen gehörte? Aber das war früher. Welches Recht hatte ich, anderen zu sagen, sie … Aber das wollte ich doch nie. Nein. Aber ich tat es, mit Phil. Der Anschlag auf den Körpergarten …

      Phil meinte, wir müssten den Menschen ihr Recht auf Endlichkeit, auf Selbsterkenntnis, auf Leiden sogar wiedergeben. Ihr Recht auf ihre identitären Körper – weil die neuen, gesunden Wegwerfkörper, wie er sagte, nicht mehr die Konsequenz hatten, die der Mensch braucht, um zu sein. Weil die Menschen belogen wurden. Er meinte, die Zentralregierung mache uns zu Material, da sie am Hormonhaushalt der neuen Körper drehen konnte. Weniger Rebellion, mehr Leistungsfähigkeit, ja Leistungslust … die »ewigen Schafe«, wie Phil sie nannte, waren nur staatstragende Masse. Keine Menschen, da ihnen die Sicherheit der Endlichkeit genommen worden war. Ihre Menschlichkeit, wie er sagte.

      Vielleicht. War ich, im neuen Körper, ich selbst? Hein hatte gesagt, es wäre wie der Übergang von der Pubertät zum Erwachsenensein – die Überzeugungen, die Gedanken blieben im Grunde gleich. Man käme nur besser mit sich aus, sei glücklicher.

      Nachdem wir die Leeren getötet hatten … Es geschah, wie wir dachten, um die Menschheit aufzurütteln, aber … Zum einen, hatten sie nicht auch ein Recht auf Leben? Auch ohne Bewusstsein?

      Ich hatte nie mit Phil darüber gesprochen, darum ging es ihm nicht, für ihn waren seine Aktionen immer klar definiert, das Ziel stand immer klar vor ihm. »Ich werde den Menschen ihre Heimat zurückgeben, ihre Menschlichkeit.« Davon war er überzeugt, er argumentierte gerne, aber er gab nie nach. »Man muss Eier aufbrechen, um ein Omelett zu machen«, hatte er gesagt. Und sein Schnitzel gegessen.

      Hein gegenüber hatte ich meine Zweifel wegen der Leeren erwähnt, heute, nur als – Überlegung. Er zeigte sich verständnisvoll. Man würde daran arbeiten, die Körper in Gebärblasen bis zum nutzbaren Stadium heranwachsen zu lassen. Ganz ohne Gehirn, kontrolliert von der Zucht-KI. Humaner. Er sagte, er selbst habe diese Zweifel gehabt. Ich schüttelte mich bei der Vorstellung, wie der alte, verhunzte Hein, der Feind, die Menschruine, der Faltenstinker daran zweifelte, ob er seinen Körper aufgeben, wieder vital werden sollte. Oder ob es ethisch eher richtig wäre, zu vergehen. Platz zu machen, der Müdigkeit nachzugeben.

      Auch das war damals nicht ungewöhnlich. Viele der wirklich alten Menschen wählten in der Übergangszeit den Tod. Ich glaube, es war sogar die Mehrzahl. Ja. Es waren jüngere Schwerkranke, die zuerst neue Körper in größeren Mengen anforderten … Bald taten es fast alle – so mit Mitte fünfzig.

      Nun war ich die »letzte Jungfrau«, wie Hein gesagt hatte. Alt. Runzlig. Verhunzt. Eine Jungfrau in Sachen Leben, weil ich mich – noch – nicht für die potenzielle Langlebigkeit entschieden hatte. Die »Existenz«, wie man heute sagt, im Kontrast zur Generationenfolge. Zur »Maschine«. Weil ich, wie die Klone sagen, noch nicht in den Apfel des Lebens gebissen hatte. Ich lachte. Früher bedeutete das Wort »Jungfrau« etwas anderes, aber das ist lange her …

      Ich versuchte, wieder