er sofort alles dem Herren Tweffell weitererzählen.«
Der Bursche trat etwas näher an sie heran, legte den Kopf schräg und fragte spitzbübisch: »Aber Ihr erzählt es nicht weiter, Herrin Gerdrud?«
Gerdrud reagierte befangen. »Ich ... ich muss weiter. Ich habe es eilig,« sagte sie.
Doch Kilian tat, als hätte er sie gar nicht gehört.
»Aber vielleicht hört Ihr Euch ein Lied an?«, fragte er. »Oder noch besser – wie Ihr gerade sagtet, singen könnt Ihr auch selbst ... Bringt denn ein solcher Frühlingsmorgen einen nicht zum Singen? Machen wir es so – ich spiele die Laute und Ihr singt.«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Als ob ich mitten in der Stadt anfangen würde, ein Liedchen zu trällern, das schickt sich doch nicht! Ich muss wirklich gehen.«
Kilian blieb aber beharrlich. »Gestattet, dass ich Euch ein Lied singe, nur eines!«
»Nein, Kilian. Auch nicht nur eines.«
»Möchtet Ihr denn wirklich keine der wunderbaren Weisen der Nürnberger Meistersänger hören, davon kann ich mehrere. Gerade ist mir ein Stück über einen alten Gerber eingefallen, der eine fünfzig Jahre jüngere Frau geheiratet hat und zum Gespött der ganzen Stadt wurde und dann ...«
Gerdrud stieß einen unterdrückten Schrei aus und platzte heraus: »Halt den Mund, Kilian, und beschäme mich nicht mitten in der Stadt! Ich gehe jetzt!«
»He, so wartet doch! Dann ein anderes Lied? Vielleicht ein Minnelied? Alle unsere Meistersänger lernen alte Minnelieder. Soll ich Euch vorsingen, wie Tannhäuser oder Konrad von Würzburg sich nach ihrer Liebsten sehnten? Soll ich?«
»Kilian – nein! Leb wohl, ich habe in der Stadt zu tun und möchte mich nicht länger mit dir unterhalten.« Gerdrud nahm den Marktkorb fester unter den Arm und schickte sich an zu gehen. Doch Kilian ließ nicht locker, er zupfte auf seiner Laute und rief leise:
»Oder dann vielleicht ein Lied aus Reval, Herrin Gerdrud? Aber die sind so traurig, dass sie so gar nicht zum schönen Frühling passen ... Ach, ein lustiges fällt mir jetzt doch ein! Vielleicht gefällt Euch dieses Stück über fröhliche Seeleute?«
Und ohne eine Antwort abzuwarten, begann er zu singen:
Ich hab siebzehn Brüder und siebzehn Schiffe
Ich hab siebzehn Häfen voll hübscher Mädchen
Meine Brüder fürchten weder Tod noch Teufel ...
Doch da schrie Gerdrud auf und auch Melchior zuckte zusammen. Die junge Frau stürzte zu Kilian hin und hielt ihm den Mund zu.
»Dieses Lied darfst du in Reval nicht singen, wenn du nicht von hier fortgejagt werden willst!«, rief sie erschrocken. »Bist du von Sinnen? Die Vitalienbrüder haben uns so viel Leid zugefügt, diese Seeräuber, diese Mörder ... Wer hier in Reval ihre Lieder singt, der muss vollkommen von Sinnen sein!«
Kilian nahm langsam ihre Hand von seinem Mund und fragte so leise, dass Melchior ihn kaum hörte: »Aber vielleicht bin ich ja vollkommen von Sinnen?«
»Sei was du willst, aber solche Lieder darfst du hier in der Stadt nicht singen, wenn du nicht gesteinigt werden willst«, beharrte sie.
»Schon gut. Aber sagt mir, was für ein Lied Ihr an diesem Morgen dann hören wollt?«
»Keines, ich muss weiter. Keines der Minnesänger oder der Meistersänger, keines über den Frühling oder das Meer, kein einziges. Ich ... ich muss mich wirklich eilen. Geh du besser auch deiner Wege.«
Kilian lächelte bekümmert. »So ohne Lieder ist Euer Leben leer und traurig, ohne Freude und Trost. Nur Geschäft und Arbeit, Kummer und Sorgen. Nun, einen schönen Tag noch, Herrin Gerdrud, und bis heute abend! Auch ich habe bei den Schwarzhäuptern zu tun. Wohin wart Ihr denn unterwegs, vielleicht haben wir denselben Weg?«
»Ich? Nur gleich hier in die Apotheke muss ich und dann zum Hafen und auf den Markt.«
»In die Apotheke?«, fragte Kilian. »Kann denn nicht Ludke die Salben und Arzneien für seinen Herrn abholen?«
»Herr Mertin hat Ludke schon gestern Abend irgendwohin geschickt, ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen ... Auf Wiedersehen, Kilian, ich gehe nun.«
Damit drehte sich die junge Frau entschlossen um. Kilian lachte, winkte Gerdrud nach und ging selbst die Raderstraße entlang Richtung der Pforte am Langen Domberg. Melchior blickte ihm nach und schüttelte traurig den Kopf. Das ist nicht recht. Es war nicht recht, dass der alte Kaufmann eine so junge Frau geheiratet hatte und noch weniger, dass ein junger und gutaussehender Kostgänger mit ihnen unter demselben Dach wohnte. Doch dann entfernte Melchior sich rasch vom Fenster und stellte sich hinter seine Theke.
Gerdrud brauchte heute aus der Apotheke eine Knochensalbe für die kranken Gelenke ihres Gemahls. Melchior stellte diese Salbe nach dem Rezept des Stadtarztes her, obwohl er sicher war, dass auch die Salbe den Knochen und Gliedern des alten Oldermanns nicht mehr viel half.
Als Gerdrud die Apotheke betrat und Melchior begrüßte, war ihr Gesicht noch leicht gerötet.
»Herrin Gerdrud, unsere liebe Frau Nachbarin!«, rief der Apotheker. »Welch eine Freude, Euch an diesem schönen Morgen in so guter Laune zu sehen.«
»Ihr seid auch immer derart guter Laune, dass es mir geradezu leid tut, so selten her zu kommen«, erwiderte die junge Frau bescheiden.
»Aber kommt doch öfter vorbei! Selbst einem jungen und gesunden Menschen kann es nicht schaden, ab und zu eine anregende Arznei zu schlucken«, empfahl Melchior. »Ach ja, Eure Knochensalbe. Hier ist sie, fertig für Euch zum Mitnehmen. Alles ist so wie immer – die Salbe auf die schmerzenden Knochen auftragen und ein Gebet an die Heilige Jungfrau dabei sprechen, dann hilft sie am besten. Oder lindert zumindest die Beschwerden des Alters. Ich hatte eigentlich an Eurer Stelle Ludke erwartet ...«
»Herr Mertin hat ihn mit einem Auftrag fortgeschickt, schon gestern. Seitdem habe ich ihn nicht gesehen«, antwortete Gerdrud.
»Und Euer Gemahl selbst?«, wollte Melchior wissen.
»Er ist schon im Morgengrauen zum Hafen geeilt, um dort einen Handel abzuschließen. Danke für die Salbe.«
»Geeilt?«, wiederholte Melchior nachdenklich. »Nun, ich bin natürlich kein richtiger Arzt, aber das eine oder andere über Krankheiten weiß ich doch. Und in Herr Mertins Alter ist Eile nicht mehr das Richtige, das sage ich Euch. Ein ruhiges Leben, kräftiges Essen, während der Fastenzeit das Fasten nicht übertreiben, nicht wahr, regelmäßig ein Aderlass sowie die schmerzenden Stellen ab und zu mit Salbe einreiben und dann noch heiße Bäder – mehr kann ich nicht empfehlen.«
Während er so sprach, beobachtete er verstohlen Gerdruds Gesicht. Das Mädchen war noch keine zwanzig. Gerdrud hatte helle Haare und blaue Augen, unter ihrer länglichen Haube sah ihr jugendliches Gesicht ganz unschuldig aus und löste Mitgefühl aus. Verbarg sie mit ihrem sorglosen Aussehen all den Kummer, den eine junge Frau ertragen musste, deren Gemahl gute vierzig Jahre älter als sie und dazu noch krank war?
»Er lässt in der Nikolaikirche für sich beten und bezahlt für die Messen«, erzählte das Mädchen und seufzte. Nicht gerade allzu großzügig, wie ich gehört habe, dachte Melchior, doch er nickte eifrig.
Das Mädchen schwieg. Es sah Melchior an, wurde ernst und fragte dann plötzlich: »Aber sagt, Herr Melchior, das alles hilft wohl gar nichts? Seine Schmerzen wollen einfach nicht nachlassen.«
»Liebe Frau Nachbarin, das Leben des Menschen verläuft so, wie es ihm bestimmt ist. Mit Hilfe von Behandlungen und Gebeten kann Herr Mertin sein Leben wohl noch etwas verlängern. Und wenn er ordentlich zur Ader gelassen wird und seine kranken Knochen und Glieder eingerieben werden, so hat seine Gesundheit noch nicht das Schlimmste zu befürchten, das habe ich ihm auch gesagt. Er kann noch mehr als zehn Jahre leben.«
»Sagt Euch das Eure Sternenkarte?«
»Meine Sternenkarte?«,