Ellen Schwiers

Dich hat der Esel im Galopp verloren


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ein Tier, indem ich um mich trat und schlug. Irgendwie konnte ich meine Familie zu mir lotsen und schließlich saßen wir tatsächlich alle in dem von mir »reservierten« Abteil.

      In Thüringen wurden wir von Jagdbombern, Jabos genannt, beschossen. Auch das Geschütz hinter der Lok brüllte los. Der Zug hielt mehrere Stunden lang, damit die Toten und Verletzten geborgen werden konnten. Die Nacht war endlos. Gegen Morgen hielten wir in Friedberg. Ich wusste, dass Friedberg in Hessen liegt, und wir beschlossen, alle auszusteigen, denn Marburg war nicht weit, und dort wohnte eine Cousine meiner Mutter, Tante Christa. Die Entscheidung musste schnell gefällt werden, der Zug wartete nicht lange. Wir packten eilends alles zusammen, die kleinen Kinder wurden geweckt, und schließlich standen wir als Einzige im frühen Morgengrauen in Friedberg frierend auf dem Bahnhof.

      Wir hatten Glück, denn kurz darauf hielt ein Zug, der doch tatsächlich nach Marburg fuhr. Er blieb kurz vor Marburg stehen, weil er noch keine Einfahrtserlaubnis erhalten hatte. Ich kannte die Stadt gut von einigen früheren Besuchen, ich wusste, wo wir waren, und kannte eine Abkürzung zu Tante Christa. Also machte ich Onkel Heinrich schnell den Vorschlag, aus dem Zug zu springen. Den Sprung hinab unterschätzte ich allerdings und tat mir fürchterlich weh, als ich auf dem Schotter landete. Keine zehn Minuten später standen Onkel Heinrich und ich als Vorhut bei Tante Christa frühmorgens vor der Tür. Sie starrte uns sprachlos an. »Die anderen kommen noch«, eröffneten wir ihr. »Na, dann kommt mal rein«, erwiderte sie und ließ uns in ihre Wohnung.

      Wir sind im Krieg immer wieder bei Verwandten untergekommen. Wir waren auf sie angewiesen. Ich hatte immer, auch in meinem späteren Leben, das Gefühl, in der Familie und Verwandtschaft geborgen zu sein. Es war selbstverständlich, dass man einander half und unterstützte. Wir waren ein Clan!

      Im Rhein-Main-Gebiet häuften sich die Luftangriffe so sehr, dass es überhaupt keine Entwarnungen mehr gab. Jeden Abend flog ein Jabo über uns hinweg, der in die Häuser hineinschoss. Wir nannten ihn bereits den »Piloten vom Dienst«. Bald saßen wir wieder nur noch im ­Keller. Tante Christa, die bisher in Marburg relativ friedlich und beschussfrei gelebt hatte, begriff unsere angebliche Hysterie gar nicht und blieb beim Fliegeralarm einfach in ihrer Wohnung. Plötzlich taumelte sie jedoch totenbleich zu uns in den Keller. Sie war im Treppenhaus beschossen worden. Die Einschussspur des Jabos war deutlich zu sehen.

      Wir sahen inzwischen aus wie graue Mäuse. Die Sonne schien, und Tante Jette fand, dass wir Kinder mal wieder an die frische Luft müssten. Mit ihren drei Kindern, eines davon im Kinderwagen, den beiden Kindern von Tante Christa, Seute und Toni, meinem Bruder Gösta und mir zogen wir los. Unser Ziel war der Bismarckturm im Wald auf der anderen Seite der Lahn. Als wir über die Brücke am Bahnhofsgelände gingen, wurden wir von zwei Jabos überflogen, die anfingen, uns zu beschießen.

      Ich habe noch viele Jahre nach dem Krieg geglaubt, dass das ein Irrtum gewesen sein muss und die Piloten nicht gesehen hatten, dass sie eine Frau mit sieben Kindern beschossen. Erst als ich später selber in Flugzeugen gesessen und festgestellt habe, dass man die Menschen aus einer bestimmten Höhe sehr wohl gut erkennen kann, habe ich begriffen, dass sie tatsächlich bewusst und absichtlich auf uns geschossen haben. Es war eben der totale Krieg.

      Panisch sind wir damals über die Brücke gelaufen. Dahinter befand sich eine Allee, die uns etwas Deckung bot. Auf der rechten Seite standen Häuser, aber um sie zu erreichen, hätte man erst die langgestreckten und keinen Schutz bietenden Vorgärten überwinden müssen. Dass unsere Entscheidung intuitiv richtig gewesen war, begriffen wir erst später, als wir sahen, dass die Häuser nicht mehr standen.

      Als Nächstes kam ein großes Gebäude, an dessen Kellertreppe zwei Männer uns aufgeregt zu sich winkten. Das Gebäude, ein ehemaliges Internat, war zum Lazarett umfunktioniert worden. Wir schienen in Sicherheit zu sein, doch es fehlten Seute und Toni, die beiden Kinder meiner Marburger Tante. In einer kurzen Beschusspause kamen die beiden angelaufen. Tante Jette, völlig außer sich, gab Seute eine Ohrfeige und schrie sie an, dass sie gefälligst bei ihr hätten bleiben sollen. Toni rechtfertigte sich. Ihre Mutter hatte ihnen geraten, sich im Falle eines Beschusses auf den Boden zu schmeißen, wo auch immer. Deswegen hatten sie sich kurz zuvor sofort in den Rinnstein geworfen. Es war riesiges Glück, dass sie nicht getroffen wurden.

      Während meine Tante mit den beiden noch immer hin und her diskutierte, näherten sich sechs riesige Bomber mit dröhnenden Motoren. Im Gegensatz zu den Geschwadern, die sonst über Marburg hinwegflogen, flogen sie erschreckend niedrig. Und dann ging die Hölle los. Wieder einmal war ich mir sicher, dass wir sterben würden, doch ich geriet nicht mehr in Panik, mir war alles egal. Es war die Annahme des Schicksals. Um uns herum explodierten die Bomben, eine unbeschreibliche Geräuschkulisse. Durch den Luftdruck zerbarsten die Türen und Fenster. Die Verwundeten, teilweise frisch operiert, schrien erbärmlich und wurden voller Panik von den Krankenschwestern in den Keller gebracht.

      Ich hatte mich über den Kinderwagen geschmissen, um das Baby von Tante Jette zu schützen. Ein Stützbalken löste sich aufgrund des Luftdrucks von der Decke und fiel mir ins Kreuz. Das hatte lebenslange Rückenschmerzen zur Folge. Der Staub vernebelte den gesamten Raum, und wir glaubten zu ersticken. Toni blutete aus Nase, Ohren, Augen, Mund. Durch den Druck hatte er einen Lungenriss bekommen. Als das Inferno vorbei war, flüchteten wir aus dem Keller und durch eine Trümmerlandschaft hindurch in den Wald. Dort kamen uns meine Mutter und Tante Christa, verrückt vor Sorge, entgegen. Es war der erste Bombenangriff, den Marburg im Krieg erlebte, und wir waren mal wieder mittendrin.

      Jetzt hatte auch Tante Christa Angst. Wir beschlossen, Marburg zu verlassen. Onkel Heinrich hatte bereits den Bescheid erhalten, sich zur DVL nach Bayern durchzuschlagen. Tante Jette kam mit ihren Kindern in die Schwalm, ein Landschaftsgebiet in Nordhessen, und wir wurden vom Roten Kreuz in die kleine mittelhessische Gemeinde Lohra verschickt.

      Es war im März, als ich meinen letzten »Beschuss« erlebte. An einem schönen Frühlingstag radelte ich mit dem Fahrrad nach Marburg, um Tante Christa zu besuchen, die dort im Krankenhaus gelandet war. Auf dem Rückweg, kurz vor Lohra, kamen zwei Jabos angeflogen und fingen an zu schießen. Neben mir radelte ein alter Mann. Erst erschossen sie einen pflügenden Bauern und seine Pferde auf dem Feld. Als der alte Mann und ich gerade einen steilen Berg hinabfuhren, nahmen sie uns ins Visier. Ich konnte nicht anhalten. In einer Linkskurve ließ ich mich verzweifelt in eine Brombeerhecke fallen, was mir wahrscheinlich das Leben rettete. Als die Jabos wieder weg waren, kam ich aber kaum noch aus der Hecke heraus, die Brombeerstacheln hielten mich fest. Mein Kleid war zerfetzt, ich blutete aus vielen Wunden und musste mir die Dornen aus den Armen und Beinen ziehen, als ich endlich wieder auf der Straße stand. Mein Fahrrad war völlig zerschossen. Den alten Man habe ich nicht mehr gesehen.

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