beiden Schwestern machten sich auf nach Königsberg, um ihre alte Mutter zu holen. In der Zeit ihrer Abwesenheit führte meine Mutter dem Professor und den nun insgesamt acht Kindern den Haushalt. Als am 20. Juli 1944 das Attentat auf Hitler scheiterte, war der Professor plötzlich verschwunden. Einige Kreisauer hatten sich der Widerstandsgruppe um den Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg angeschlossen, nachdem Anfang 1944 einer der Gründer des Kreisauer Kreises, Helmuth James Graf von Moltke, verhaftet worden war. Es dauerte nicht lange, da stand die Gestapo vor der Wohnungstür, um den Professor zu verhaften, fand aber nur eine Frau und acht Kinder vor. Sie nahmen meine Mutter, die keine Ahnung hatte, wo sich der Professor aufhielt, kurzerhand mit und brachten sie in einen Keller zum Verhör. Sie hat, nach dem, was sie uns später erzählte, den Ernst der Lage gar nicht begriffen, sondern sich stattdessen lautstark darüber beschwert, dass eine grelle Lampe auf sie gerichtet war und dass sie, eine Dame, diesem grauenvollen Licht ausgesetzt wurde. Sie haben sie tatsächlich wieder ziehen lassen. Ich glaube, ihre Naivität hat ihr das Leben gerettet.
Der Professor tauchte erst kurz vor Kriegsende wieder auf. Im Auftrag der Besatzungsmächte wurde er zunächst Rektor der Universität Leipzig und nahm ab 1947 seine Lehrtätigkeit in München wieder auf.
Nachdem Tante Eva und Tante Erika mit ihrer Mutter aus Königsberg zurückgekommen waren, fuhr meine Mutter mit Gösta nach Kreuzburg in Ostoberschlesien zu ihrer Schwester Jette, die vor den Bombenangriffen aus Berlin geflohen und mit ihren drei kleinen Töchtern dort untergekommen war. Ihr Mann, mein sehr geliebter Onkel Heinrich, forschte als Ingenieur für Maschinenbau für die DVL, die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt, weshalb er auch nicht eingezogen worden war. Einen Teil seiner Abteilung hatte man von Berlin nach Kreuzburg verlegt und in Paradies, dem heutigen Gościkowo, im dortigen Kloster untergebracht.
Am 4. Oktober 1944 brannte unsere Wohnung in Koblenz völlig aus. Erst vier Wochen später wurde mir die traurige Nachricht auf einer vorgedruckten Karte mit der Post überbracht. Wir hatten gerade eine Freistunde. Ich saß auf der Bank am Kamin und zerdrückte ein paar Tränchen. Johanna, ein Mädchen, mit dem ich mich angefreundet hatte, fragte nach dem Grund. Ich reichte ihr stumm die Postkarte. »Der 4. Oktober – das war doch die Nacht, in der du so geschrien hast«, stellte sie fest. Wir schliefen alle in einer Art Wintergarten, und ich hatte im Schlaf so laut geschrien, dass mich meine Zimmergenossinnen gerüttelt und geschüttelt hatten, weil ich mich einfach nicht beruhigen konnte. Ich hatte geträumt, ich stünde in Koblenz in der Tür unseres Wohnzimmers vor einem Flammenmeer. Zwischen den Fenstern hing ein großer Spiegel, ein Erbstück meiner Mutter. Er reichte vom Boden bis zur Decke und hatte ein silberhinterlegtes, geteiltes Spiegelglas. Der Rahmen war barock geschnitzt und mit Blattgold belegt. Ich sehe in diesem Spiegel, wie ich in der Tür stehe, sehe, wie ich weine und mir die Tränen übers Gesicht rinnen. Oder war es das Spiegelglas, das in der Hitze der Flammen langsam schmolz und gleich Tränen hinablief? Ich sehe mich auch im Kinderzimmer stehen und voller Entsetzen dabei zusehen, wie meine heißgeliebte Bibliothek verbrennt, über hundert Bücher, das Kasperletheater und das barocke Papiertheater von den Großeltern. In der Küche brannte das Büffet, eine besondere Kostbarkeit in meinen Augen, weil mein Vater es mit angeblich von Rembrandt bemalten und gebrannten Kacheln aus Holland beklebt hatte. Mein Vater hatte sie in mehreren Antiquitätenläden entdeckt und schwor darauf, dass sie echt seien.
Das war ein weiteres Mal, dass ich in einem Traum so lebhaft das sogenannte zweite Gesicht hatte, auch wenn ich nicht in die Zukunft sah, sondern zeitgleich im Geschehen war. Das begriff ich aber erst, als Johanna mich an diese Traumnacht erinnerte.
Später, als wir nach dem Krieg wieder nach Koblenz kamen, stand ich in den Trümmern unseres Wohnzimmers vor dem zerschmolzenen Spiegelglas aus meinem Traum. Von unseren Möbeln, unserer Einrichtung, war nur die Scherbe einer kleinen gelben Wandvase übrig geblieben. Diese Scherbe hängt als Erinnerung noch heute in meinem Esszimmer an der Wand.
Der Winter 1944 war bitterkalt. Das merkten wir auch im Internat. Meine fünfzehn Mitbewohnerinnen hatten jedoch alle warme Federbetten von zu Hause mitgebracht. Ich besaß nur eine dünne Decke und ging deswegen mit meinem Trainingsanzug ins Bett. Wenn ich am Morgen aufwachte, war mein Atem auf dem Kopfkissen gefroren.
Weihnachten stand vor der Tür, und das Internat wurde über die Weihnachtsferien geschlossen. Alle fuhren mit leichtem Gepäck nach Hause. Ich aber packte alle meine Sachen in meinen Koffer, denn ich hatte beschlossen, nicht mehr ins Internat zurückzukehren. Ich wollte bei meiner Mutter und meinem Bruder bleiben. Wo unser Vater war, wussten wir zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr. Also machte ich mich auf nach Kreuzburg. Als ich ankam, freute sich meine Mutter keineswegs, sondern war erbost, dass ich das Internat aufgekündigt hatte. Schließlich, meinte sie, wäre das Internat noch für ein Vierteljahr bezahlt. Ihre Reaktion verletzte mich sehr. Ich hatte das Gefühl, sie legte keinen Wert auf mich. Meiner Mutter kam es offenbar gar nicht in den Sinn, dass ich bei meiner Familie sein wollte – es war doch Krieg.
Kreuzburg lag achtzig Kilometer westlich der damaligen polnischen Grenze, und der Landrat, in dessen Haus wir mit Tante Jette und ihren drei kleinen Töchtern wohnten, riet uns: »Sobald es im Wehrmachtsbericht heißt, dass die russischen Panzer bei Tschenstochau durchgebrochen sind, müsst ihr von hier weg, denn dann stehen die Russen bald vor unserer Haustür.« Nur wenig später war es so weit, und wir mussten aus Kreuzburg fliehen.
Flucht
Wir landeten auf einem Bauernhof. Die Bauernfamilie war wegen der Festungsfront Oder-Warthe-Bogen, einer seit 1934 aufgebauten, stark befestigten Verteidigungslinie, von der Bevölkerung auch »Ostwall« genannt, umgesiedelt worden und hatte einen nigelnagelneuen Bauernhof bekommen, der drei Kilometer vom Ort entfernt auf einer Warft lag. Hinter dem Hof begann ein Hochmoor, das an einen Wald grenzte.
Jeden Tag fuhr ich nun mit der Bahn, gemeinsam mit sieben weiteren Kindern, nach Meseritz zur Schule. Eines Morgens war die ganze Stadt voller Menschen, Pferde, Wagen und Gespanne. Ein Treck war angekommen. Auf den Straßen gab es kaum noch ein Durchkommen. Als wir Kinder schließlich in der Schule ankamen, schlug der Hausmeister die Hände über dem Kopf zusammen. »Was wollt ihr denn hier? Die Schule ist geschlossen. Die Russen sind im Anmarsch.« Wir erschraken, und wir wussten nicht, wie wir wieder zurück nach Hause kommen sollten. Wir konnten die zwölf Kilometer zurück doch nicht zu Fuß laufen! Es hatte stundenlang geschneit, der Schnee lag inzwischen hüfthoch. Verzweifelt gingen wir zum Bahnhof. Dort erbarmte sich unserer ein Lokführer und bot an, uns nach Hause zu fahren. Die Waggons wurden abgekoppelt, wir bekamen jeder eine Schaufel in die Hand gedrückt, und nur mit der Lok fuhren wir los. Die Fahrt dauerte eine Ewigkeit. Alle paar Kilometer mussten wir mit unseren Schaufeln erst den Schnee von den Schienen schaufeln, der sich dort zusammengeschoben zementschwer türmte, bevor wir weiterfahren konnten. Erst gegen Mittag traf ich zu Haus ein.
Noch am selben Tag, am Nachmittag, sah ich vom Hof aus am Waldrand zwei russische Panzer. Sie gaben einen Schuss ab, die Kugel versank im Moor. Damit war klar, dass die Panzer nicht über das Hochmoor fahren konnten, ohne zu versinken. Als ich schrie und die Erwachsenen rief, hatte der Schnee schon wieder alles zugedeckt und die Panzer waren im Wald verschwunden.
Die Front mit ihrer Geräuschkulisse, dem ununterbrochenen Geballere und Donnern, rückte immer näher und wurde immer lauter. Dass die Ostfront nahe war, hatte auch Onkel Heinrich im Wehrmachtsbericht gehört und bereits einen LKW organisiert, der geheime Dokumente der DVL nach Berlin fahren und zusätzlich nun auch Tante Jette, meine Mutter und uns fünf Kinder mitnehmen sollte nach Berlin-Bohnsdorf, wo meine Tante und mein Onkel wohnten.
Ob der bevorstehenden Flucht erlitt meine Mutter einen Zusammenbruch. Sie wollte lieber auf dem Hof bleiben, als schon wieder ins Ungewisse zu fliehen. Ich konnte sie verstehen. Ihr Zuhause gab es nicht mehr, es war zerstört. Als Ausgebombten hatte man uns auch bereits zwei neue Betten und einen neuen Schrank zugewiesen. Und sie hatte sich mit der Bäuerin angefreundet. Vieles erinnerte sie hier an ihre Kindheit. Doch wir wollten auf keinen Fall den Russen in die Hände fallen. Obwohl Tante Jette und ich mit Engelszungen auf meine Mutter einredeten, schluchzte sie nur und wollte nicht einsteigen, als der LKW kam, um uns abzuholen. Daraufhin habe ich einen Anfall bekommen, denn im Gegensatz zu den anderen hatte ich in Meseritz den Flüchtlingstreck und unweit des Hofes die Panzer gesehen und wusste,