Wilfried Metsch

Die Kunst des Aufstands


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uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er schreibt, dass Engels »bahnbrechend« war für »das Konzept des Revolutionskrieges.«4 Allerdings unterscheidet er nicht präzise zwischen den verschiedenen Typen des asymmetrischen Krieges und vermengt deswegen die verschiedenen Kampfformen.

      Aufgrund der zunehmenden Rolle des Militärs, insbesondere in Preußen, und neuer extremer Militärtechnologie beschäftigt sich Engels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bis zu seinem Ableben, intensiv mit Fragen revolutionärer Taktik – da gewaltförmige Auseinandersetzungen im Klassenkampf seitens der Herrschenden immer wieder drohten beziehungsweise stattfanden: Man denke nur an die blutige Niederwerfung der Pariser Kommune 1871. Im Deutschen Kaiserreich gab es 1878, 1890 und 1894 unter Bismarck wie Wilhelm II. ernsthafte Staatsstreicherwägungen der Armee gegen die »rote Gefahr«, wobei man auf den »Sonderstatus der bewaffneten Macht im Staate, repräsentiert in der Kommandogewalt des Monarchen, in der privilegierten Stellung des exklusiven Offizierskorps, in der Militärgerichtsbarkeit« baute.5

      Das Nachdenken über die Kunst des Aufstands führt in Engels’ letzten Lebensjahren zu neuen und interessanten Erkenntnissen über Möglichkeiten der Arbeiterinsurrektion unter asymmetrischen Kampfbedingungen. Allerdings wollten damalige führende Sozialisten, insbesondere in Deutschland, diese Erkenntnisse nicht wahrnehmen oder konnten diese von den proletarischen Massen nicht wahrgenommen werden, da Engels’ Ansichten von der sozialdemokratischen Parteipresse massiv zensiert oder verschwiegen wurden. Auch die Geschichtsforschung hat sich bisher kaum mit der Frage der Ansichten des »alten« Engels zur Neujustierung revolutionärer Taktik, zu Bedingungen und Chancen eines proletarischen Aufstands beschäftigt. Die sowjetisch orientierte Engelsforschung machte um seine Erkenntnisse einen Bogen, da sie nicht so einfach mit der stets betonten herausragenden Bedeutung und Rolle der Arbeiterklasse in der Insurrektion sowie den späteren Aufstandsaktivitäten der Dritten Internationale (Rote Garden) in Einklang zu bringen waren. So finden sich z. B. in Juri Krassins »Theorie der sozialistischen Revolution« hierzu keine Ausführungen, und A. I. Babin verschweigt in seinem ansonsten ausgezeichneten Buch über »Die Herausbildung und Entwicklung der militärtheoretischen Ansichten von Friedrich Engels« wesentliche Äußerungen und Empfehlungen von Engels nach 1890 zu neuen Kampfbedingungen aufgrund eines veränderten Militärwesens, da dies die ideologisch verzerrte Darstellung der militärischen Seite der Oktoberrevolution durch die einschlägigen Handbücher der Dritten Internationale und deren fehlgeschlagene Aufstandspraxis in Frage gestellt hätte.

      Zunächst wird in diesem Teil über die Kunst des proletarischen Aufstands bei Marx und Engels die Möglichkeit eines

      a)gewaltfreien (friedlichen) Machteroberungsprozesses dargestellt.

      Es folgt eine Analyse

      b)frühproletarischer Aufstände

      sowie

      c)der Veränderung der Gewaltbedingungen zu Ende des Jahrhunderts.

      Danach werden die

      d)Bedingungen und Formen einer möglichen neuen revolutionären Taktik nach Engels umfassend beschrieben.

      Abschließend sollen

      e)außergewöhnliche Gewaltformen – Verschwörungen, Attentate, Terrorismus und deren Einschätzung bei Marx und Engels am Beispiel Russland und Irland – untersucht werden.

      Anhand kurzer historische Exkurse zu geschichtlichen Neuzeitrevolutionen soll

      f)der Realitätsgehalt der von Engels vorgeschlagenen revolutionären Taktik

      überprüft werden.

      Abschließend folgt ein kurzer Blick auf

      g)neue staatliche Gewaltinstitutionen zur Aufstandsbekämpfung im 21. Jahrhundert, da sie als Reflex auf vergangene gewaltförmige proletarische Emanzipationsversuche zu verstehen sind.

      Das Ziel der Abhandlung ist somit die systematische Rekonstruktion der Rolle der Gewalt im asymmetrischen, gewaltförmigen proletarischen Machterlangungsprozess bei Marx und insbesondere Engels, zumal bisher keine umfassende wissenschaftliche Untersuchung zur Kunst des Aufstands im internen gesellschaftlichen Konflikt vorliegt. Durch ausführliche Zitate und in systematisch-geordneter Weise wird die »Kunst des Aufstands« bei Marx und Engels rekonstruiert. Um einen uferlosen Text zu vermeiden, erfolgt eine Beschränkung auf typische Kernaussagen und Zitate der beiden Protagonisten des revolutionären Kampfes zu den jeweilig aufgeworfenen Fragestellungen.

      Der Beitrag beschränkt sich hauptsächlich auf den Gewaltaspekt, die militärische Seite der sozialistischen Insurrektion, obwohl dies immer nur ein Teil eines komplexen Revolutionsprozesses ist. Die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Voraussetzungen und Bedingungen eines Arbeiteraufstands sind nicht Inhalt dieser Studie.

      I

      Die Kunst des Aufstands

      Anmerkungen zum Charakter einer proletarischen Revolution

      Bevor wir die Ansichten von Marx und Engels zum bewaffneten revolutionären Kampf näher analysieren, noch einige Anmerkungen zum Charakter proletarischer Revolutionen, wie die »Klassiker« sie sehen:

      Ziel des politischen (Klassen-) Kampfes ist für Marx und Engels die »Eroberung der politischen Macht für und durch die Arbeiterklasse«,6 um die »vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation«7 zu bewerkstelligen. Eine sozialistische Revolution ist nur »möglich, wo mit der kapitalistischen Produktion das industrielle Proletariat wenigstens eine bedeutende Stellung in der Volksmasse einnimmt.«8 Der Typus der »Minoritätsrevolutionen«9 hat ausgedient: Die »Massen (müssen) selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Leben eintreten.«10

      Aber bei antagonistischen Produktionsverhältnissen ist die »politische Gewalt der offizielle Ausdruck des Klassengegensatzes«11 und »diese Gewalt, in ihrer organisierten Form, heißt Staat.«12 Im »Kommunistischen Manifest« findet sich eine klassische Definition von politischer Gewalt: »Die politische Gewalt im eigentlichen Sinne ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen.«13 Das 19. Jahrhundert bestätigt mit der Niederwerfung von Arbeiteraufständen, insbesondere nach der blutigen Zerschlagung der Pariser Kommune von 1871, den Unterdrückungscharakter der Staatsmacht. Proletarische Emanzipationsbestrebungen haben deswegen bei ihrem Versuch, die politische Macht zu erobern, mit gewaltförmigen Staatsreaktionen zu rechnen.

      Andererseits hat die kapitalistische Produktionsweise als konstituierendes Merkmal den doppelt freien Lohnarbeiter zur Voraussetzung:

      »Freie Arbeiter in dem Doppelsinn, daß weder sie selbst unmittelbar zu den Produktionsmitteln gehören, wie Sklaven, Leibeigene usw., noch auch die Produktionsmittel ihnen gehören, wie beim selbstwirtschaftenden Bauer usw., sie davon vielmehr frei, los und ledig sind.«14

      Der Lohnarbeiter besitzt den Status eines nicht persönlich abhängigen, also autonomen juristischen Subjektes. In der klassisch bürgerlichen Gesellschafts- und Staatsform nehmen Kapitalisten und Arbeiter als Staatsbürger die Form gleichberechtigter politischer Individuen an, und diese formale Freiheit und Gleichheit verpuppt sich idealerweise in der rechtsstaatlich-parlamentarischen Republik. Unter spezifischen Bedingungen eröffnen sich somit auch Chancen für eine friedliche Umgestaltung der Gesellschaftsverhältnisse durch Inanspruchnahme des allgemeinen Stimmrechts.

      Da aber »die kapitalistische Gesellschaft (…) mehr oder weniger durch die besondere geschichtliche Entwicklung jedes Landes modifiziert, mehr oder weniger entwickelt«15 ist, gibt es keinen Königsweg zur Eroberung der politischen Macht. So entspringen die »Bestrebungen und Tendenzen der Arbeiterklasse (…) den realen Bedingungen, in denen sie sich vorfindet.«16 »Wir haben nicht behauptet, daß die Wege, um zu diesem Ziel zu gelangen, überall dieselben seien.«17

      Als verschiedene Wege werden in dieser Abhandlung untersucht:

      –die Bedingungen der Möglichkeit einer friedlichen proletarischen