Klaus Dörner

Bürger und Irre


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daß man den Versuchungen des künstlich-städtischen Lebens erlegen ist, die Leidenschaften maßlos werden und die Grenzen der bürgerlichen Norm und des Natürlichen hinter sich ließ. Die Empfindsamkeit, der Vorzug des Bürgers, stellt die moralische Aufgabe, die durch Beschränkung, Verzicht, zu lösen ist, was mit Erfolg belohnt wird. Versagt man, steigert sich die Empfindsamkeit ins Unnatürlich-Maßlose, ist Krankheit eine der möglichen Strafen. Die Übergänge sind fließend: »nervous disorders« – »madness« – »insensibility«/Stumpfsinn. Mit anderen Begriffen werden sie von Arnold dargestellt: »moral insanity« und »medical insanity«. Das Bewußtsein moralischer Schuld und die Vorstellung der seelischen Krankheit als Strafe gehen eine die moralische Ordnung sanktionierende und den Bürger bedrohende Verbindung ein. Es muß in diesem Zusammenhang gesehen werden, wenn Johnson schreibt: »No disease of the imagination [...] is so difficult of cure, as that which is complicated with the dread of guilt.«97 Während die Wirtschaft der Rationalität, der Nützlichkeit und der Selbsterhaltung folgt, entwickelt James Vere, Kaufmann und Governor of Bedlam, 1778 mit Hilfe der »nervous disorders« die kompensierende bürgerliche Moral: Wenn die »moral instincts« ihre Herrschaft über die »lower order of instincts« (d. h. »self-preservation«, »self-love«) verlieren, entsteht »a sort of internal war, which divides the man against himself: and hence a large share of disquiet and restlessness will be the unavoidable consequence«.98

      Wie aber siegen die bürgerlichen Romanhelden, ihre romantischen Autoren und wie siegen die Ärzte der »nervous disorders« in diesem innerlichpsychischen und zugleich sozialmoralischen Kampf? Ihnen ist ein Mittel gemein, das an Wirksamkeit und Popularität nicht zu übertreffen ist: die Flucht, der Rückzug aus der Alltagswelt, aus der Unrast der Städte, den Anstrengungen und Mißerfolgen des Berufs und aus den nervenaufreibenden Vergnügungen, kurz: aus der mit Verantwortung, Schuld und Krankheit beladenen Reizüberflutung, der die empfindsame Seele ausgesetzt ist.99 Die Richtung dieser kulturkritischen Flucht liegt fest. Der Bürger kommt zum »Menschlichen« in sich, zu seiner inneren Natur, zur subjektiven Wahrheit über sich auf dem Weg über die Harmonie und Unschuld der unberührten äußeren Natur, und das Resultat entspricht der das Verhalten zur Norm hin temperierenden moralischen »Natürlichkeit«. Was mit Cheyne begann, wurde mit Richardson (dem man z. B. die Symptome einer »Bibliomanie« nachwies) zur Mode, zur physisch-moralisch therapeutischen Institution: das Hirtenleben, die Landpartie, Jagen, Fischen, Reiten, körperliche Gymnastik und der Englische Garten; hinzu kamen Milchkuren und sonstige naturgemäße Diäten. Seit die Nerven vibrierende, gespannte Saiten sind, besitzt auch die Musik die ideale Basis für eine sympathisch-regulierende Heilkraft (während die romantische Literatur im Gegenteil zur Überreizung führt).100 Die reinigende Wirkung des Wassers, seit je mit dem Mythos der inneren Wiedergeburt verbunden, wird institutionalisiert: Bath wird im 18. Jahrhundert zu einem Zentrum des gesellschaftlichen Lebens.

      Sind die bisher erwähnten Phänomene zum Teil bereits mit kleineren Reisen verbunden – eignen sich daher vor allem für den kleinen Spleen des Kleinbürgers –, so wird die Reise überhaupt, die große Reise das repräsentative Mittel gegen den großen Spleen der bessergestellten Bürger. Während man noch 100 Jahre zuvor durchs Reisen krank wurde (Heimwehkrankheit), und während wir bei Sydenham die Reise noch als mechanisch wirkendes Täuschungsmanöver fanden, wird sie um die Jahrhundertmitte zum beherrschenden Topos und zugleich zur Mode. Namentlich die Jugend wurde auf die große Tour nach Frankreich und Italien geschickt: Bildung, Vergnügen und die Kur des Weltschmerzes, der moralischen Skrupel und der unpassenden Absonderlichkeiten vor dem Eintritt in die Leistungswelt sind nicht mehr voneinander zu trennen. Flucht in die Natur und die in die Vergangenheit werden eins. Horace Walpole, Smollett, M. Green, Boswell, Beckford, Goldsmith und Sterne absolvieren das, was letzterer mit der Sentimental Journey (1768) zu epochaler Repräsentanz erhoben hat.101

      Es versteht sich, daß die Armen an diesen Kulturprodukten nicht teilhaben, weder an den sublimeren Formen der »nervous disorders« noch an den kostspieligen und das »Menschliche« befreienden Mitteln ihrer Heilung. Ihnen bleiben – wenn überhaupt – die traditionellen entleerenden Medikamente und ähnliche Gewaltmaßnahmen, wobei freilich Wesleys Entdeckung des billigsten Heilmittels, der elektrischen Maschine, und ihre Anwendung auf die Armen einen integrierenden Fortschritt bezeichneten, der die Armen mit manchen besseren Bürgern auf eine Stufe stellte. Daß hiermit auch ein ärztliches Mittel der Integration der Leistungswelt geschaffen war, zeigt die Geschichte vom Heilungserfolg des Dr. W. St. Clare. Im Februar 1787 brach in einer Baumwollfabrik unter den weiblichen Arbeitern eine hysterische Epidemie mit Krämpfen und Angstanfällen aus. Sie griff sogar auf ein entferntes anderes Werk – sympathisch-infektiös – über. Die Fabrik (2–300 Arbeiter) mußte stillgelegt werden. Der herbeigerufene Arzt konnte jedoch mit seiner »portable electrical machine [...] by electric shocks« in kurzer Zeit alle Erkrankten heilen und so die Fabrik wieder in Gang bringen.102

      Nicht weniger als die Romantik beeinflußt die schottische Moralphilosophie die Entstehung einer Medizin des menschlichen Geistes, der Psychiatrie. Das gilt für die theoretische Rechtfertigung der Besonderheit eines solchen wissenschaftlichen Bereichs ebenso wie für die Entwicklung einer pragmatisch-menschenfreundlichen Haltung der Ärzte dem Gegenstand ihrer Wissenschaft, den Irren, gegenüber und nicht minder für die Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion der Psychiatrie. Wie der Romantik, so ist auch der schottischen Philosophie ein doppelter Protest immanent. Sie ist skeptisch gegenüber der Metaphysik, aber auch gegenüber dem Sensualismus. Sie wendet sich gegen die Absolutheit äußerer Autorität und will sie doch – nach dem Kriterium der Nützlichkeit – erhalten wissen. Das heißt, sie vertraut nicht einer sich aus den Bewegungen der bürgerlichen Gesellschaft von selbst ergebenden Autorität, sondern hält an der Tradition als Basis einer kontinuierlichen Entwicklung, eines naturwüchsigen Fortschritts fest. »Ihre Kritik hält sich im Einklang mit dem Konservatismus der Naturgeschichte selbst.«103 Mit der Überlegenheit des Herzens über den Kopf, der Bestimmung der sozialen Tugend der »sympathy«, knüpfen die Schotten an Shaftesbury an, ebenso mit dem »common sense«, der ursprüngliche und natürliche Urteile und damit gesellschaftliches Dasein ermöglicht: »They serve to direct us in the common affairs of life, where our reasoning faculty would leave us in the dark.«104 Freilich subjektivieren sie den »common sense«; er hat nicht mehr den medizinisch im Organismus bestimmbaren Ort wie bei Willis, bleibt nur per analogiam auf die Natur bezogen. Relativ abgelöst von ihr konstituiert »common sense« einen Bereich subjektiver Evidenz. Die schottische Philosophie »setzte an die Stelle von Erkenntnis im eigentlichen Sinne ein pragmatisch bestimmtes Vertrauen auf die Gültigkeit des ›gesunden Menschenverstandes‹ und darauf, daß die Wahrheit immer in der Mitte liege. [...] Der common sense war gewissermaßen ein statistisches Mittleres aller in der Welt vorkommenden Überzeugungen«.105 Es wird hier der Versuch unternommen, unmittelbar zu Aussagen über psychische und soziale Gegebenheiten zu gelangen, nur noch indirekt bezogen auf Kopf und Körper, auf rationale Erkenntis und Natur.

      So finden wir schon Hutcheson um denselben Nachweis bemüht, den auch Battie, Arnold und Whytt anstrebten: daß es im menschlichen Subjekt einen Bereich gibt, in dem rational Durchschaubares und moralisch Beurteilbares eigenständig wird und gleichsam mit der Macht einer zweiten Natur agiert, gegen die der rationale Korrekturversuch ohnmächtig ist, ja nur noch der Rationalisierung dient: »... and commonly beget some secret Opinions to justify the Passions«.106 Dies ist für Th. Reid bereits so selbstverständlich, daß er für sein Vorhaben – »anatomy of the mind«, »analysis of the human faculties« – nur die Introspektion in den eigenen Geist zuläßt. Aber auch diese komme, als Reflexion, immer zu spät, um den Berg der anerzogenen Vorurteile bis auf die »simple and original principles of the Constitution« abzutragen.107 Von hier aus zeichnen sich Wege ab, diese Art Psychologie für die Medizin nutzbar zu machen. Für J. Gregory, Professor der Philosophie und dann der Medizin in Aberdeen, ist das möglich über eine »comparative Animal Oeconomy of Mankind and other Animals«; denn in Übereinstimmung mit Whytt ist der Instinkt, im Gegensatz zur Vernunft, ein untrügliches Prinzip für den Menschen und eine sichere Basis für sein psychologisches Verständnis. Die guten, natürlichen Instinkte der Tiere und der Wilden sind für Gregory das Kriterium dafür, daß diese auch beim Menschen zu trennen sind vom »depraved and unnatural State, into which mankind are plunged«. Man sieht: