als unumgänglich erwiesen hat. Wenn er trotz all der von uns erwähnten Vorbehalte immer noch in aller Munde ist, dann auch deshalb, weil er, auf zugleich unbestimmte und nachdrückliche Weise, dem Bedürfnis entsprach, eine neue Sprache für eine neue Dimension des politischen Zyklus zu verwenden, der sich an der Schwelle zum 21. Jahrhundert aufgetan hat; und weil er in dieser Eigenschaft bisher ohne Konkurrenz ist. Ein politischer Zyklus, den manche als dringende gesellschaftliche Erwartung nach Neubelebung des demokratischen Projekts durch Rückkehr zu einer aktiveren Form von Volkssouveränität beschreiben, während andere in ihm umgekehrt die Vorzeichen für eine drohende Destabilisierung dieses Projekts erkennen. Doch das zweite und entscheidende Faktum ist, dass der Begriff letztlich von jenen Politikern mit Stolz übernommen wurde, die seine Verwender in einem denunziatorischen Sinne hatten an den Pranger stellen wollen.1 Es gibt eine lange Liste von Persönlichkeiten der Rechten und extremen Rechten, die das Stigma umzukehren versuchten, indem sie zunächst behaupteten, das Wort »mache ihnen keine Angst«, bevor sie es sich selbst nach und nach aneigneten. Ähnlich verlief die Entwicklung auf der Linken, wie auf exemplarische Weise Jean-Luc Mélenchon bezeugt. »Ich habe überhaupt keine Lust, mich gegen den Vorwurf des Populismus zu wehren«, sagte er schon 2010. »Das ist der Hochmut der Eliten. Sollen sie doch alle abhauen! Populist, ich? Meinetwegen.«2 Die Tatsache, dass einige Intellektuelle zu Befürwortern eines »linken Populismus« geworden sind, hat ebenfalls sehr dazu beigetragen, dem Begriff genug Festigkeit zu geben und ihn in den politischen Sprachgebrauch eingehen zu lassen. Die Stellungnahmen und Schriften von Wendy Brown, Nancy Fraser, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe waren in dieser Hinsicht einflussreich, indem sie dazu anregten, den Begriff beizubehalten und seine Aussagekraft anzuerkennen.
Eine zu theoretisierende Realität
Das Problem ist, dass die weiter wachsende Zahl von Werken, die dem Populismus gewidmet sind, sich im Wesentlichen darauf beschränkt, die Motive für das populistische Votum zu verstehen, um seinen spektakulären Aufstieg in der ganzen Welt zu erklären. Mit den Werkzeugen der Wahlforschung und der politischen Wissenschaft beschreiben sie die betroffenen Bevölkerungsgruppen, die Werte, die sie vertreten, ihre Beurteilung der Politik und der Institutionen und natürlich ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen in ihren verschiedenen Dimensionen. Die Untersuchungen zeichnen das Porträt einer sozialen und kulturellen Welt, das in vielen Ländern objektive Gemeinsamkeiten aufweist: Personen, die abseits der Metropolen in Zonen des industriellen Niedergangs leben und als »Verlierer« der Globalisierung gelten können, mit unterdurchschnittlichem Einkommen und relativ wenigen Hochschulabsolventen. Wütende Bevölkerungsgruppen auch, die in subjektiverer Weise durch ihr Ressentiment gegenüber einem System zu beschreiben sind, von dem sie sich verachtet und unsichtbar gemacht fühlen, die sich auszeichnen durch ihre Angst, angesichts der Öffnung der Welt und der Ankunft von Migrant*innen ihrer Identität beraubt zu werden. Durch den Vergleich vieler Daten und den Entwurf erneuerter Konzepte haben manche dieser Arbeiten es ermöglicht, zu einem besseren Verständnis dessen zu gelangen, was diese populistische Wählerschaft ausmacht. Doch gleichzeitig verhinderten sie auch ein umfassendes Verständnis des Phänomens, indem sie es implizit als bloßes Symptom für andere Dinge betrachteten, die der eigentliche Gegenstand wären, dem die Aufmerksamkeit zu gelten hätte: den Niedergang der Parteiform zum Beispiel, die Kluft zwischen der politischen Klasse und der Gesellschaft oder das Verschwinden des Unterschieds zwischen einer Rechten und einer Linken, die gleichermaßen unfähig sind, sich den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen. In diesem Fall wird nicht mehr das Wesen des Populismus, sondern seine Ursachen gedacht. Was darauf hinausläuft, eine neuerliche Analyse der Politikverdrossenheit und der aktuellen sozialen Spaltungen vorzunehmen.
Die häufige Gleichsetzung der Populismen mit ihrer Protestdimension und dem daraus folgenden Politikstil und Diskurstyp ist eine zweite Art, sie nicht in vollem Umfang zu erfassen.3 Diese Dimension ist zwar unleugbar, doch darf sie nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die Populismen auch ein echtes politisches Angebot darstellen, das seine eigene Schlüssigkeit und positive Stärke besitzt. Ihre gewohnheitsmäßige Identifizierung mit politischen Figuren der Vergangenheit, insbesondere aus den Traditionen der extremen Rechten, führt dazu, ihr Wesen noch weiter zu reduzieren. Zwar sind die Populismen oft in ihrem Dunstkreis entstanden, doch hat das Phänomen mittlerweile eine andere Dimension angenommen (ungeachtet der Tatsache, dass sich ein als links verstehender Populismus herausgebildet hat).
Hinzuweisen ist auch auf die Grenzen der Erstellung diverser Typologien des Populismus, die oft vorgeschlagen wird. Die Vielfalt ihrer Varianten zu beschreiben (rechte und linke, mit ihrem jeweiligen Graden an Autoritarismus, den mit ihnen verbundenen wirtschaftspolitischen Unterschieden usw.), ist keine Hilfe, um das Wesentliche zu verstehen: den Kern unveränderlicher Elemente sowie die Regeln zur Differenzierung von Sonderfällen. Eine Typologie kann sich auch darin erschöpfen, jedem Einzelfall eine besondere Kategorie zuzuordnen. Sie ist dann nichts weiter als eine chaotische Aufzählung, eine Liste à la Prévert, wie man im Französischen sagt. Eine Zeitschrift hielt es beispielsweise für erhellend, die 36 Familien des Populismus zu unterscheiden!4 Eine solche Übung ist das genaue Gegenteil einer Konzeptualisierungsarbeit; sie ist nur eine Verschleierung der Unfähigkeit, das Wesen der Dinge zu erfassen.
Zugleich ist das Problem, dass diese von den einen gefeierten, von den anderen verteufelten Populismen nur vage und damit unzureichend bestimmt geblieben sind. Sie wurden im Wesentlichen auf dumpf formulierte Aversionen und Ablehnungen zurückgeführt oder auf Projekte, die sich in wenigen Parolen zusammenfassen lassen (wie im Fall des berühmten RIC5 in Frankreich). Was es erschwert, ihren Aufstieg zu analysieren und zugleich eine stichhaltige Kritik zu erarbeiten. Will man die Populismen in ihrer vollen Dimension verstehen, als eigenständige politische Kultur, die dabei ist, unsere politische Landschaft neu zu definieren, kommt man um die Feststellung nicht herum, dass sie noch nicht in diesen Begriffen analysiert wurden. Gleichzeitig haben ihre Akteure, trotz einiger bemerkenswerter Publikationen oder Reden, auf die wir noch kommen werden, noch keine wirkliche Theorie dessen vorgelegt, was sie verkörpern. Das ist ein historischer Ausnahmefall. Denn vom 18. bis zum 20. Jahrhundert gingen alle großen Ideologien der Moderne mit der Veröffentlichung grundlegender Werke einher, die kritische Analysen der bestehenden Gesellschaft und Politik mit Zukunftsvisionen verbanden. Die Prinzipien des Liberalismus wurden von Adam Smith und Jean-Baptiste Say, Benjamin Constant oder John Stuart Mill formuliert; der Sozialismus wurde durch die Arbeiten von Pierre Leroux, Proudhon, Jaurès oder Kautsky begründet; die Werke von Cabet und Marx spielten bekanntermaßen eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung des kommunistischen Ideals. Der Anarchismus wiederum identifizierte sich mit dem Beiträgen von Bakunin und Kropotkin, während Konservatismus und Traditionalismus in Burke und Bonald ihre Verfechter fanden. Die Regeln der Repräsentativregierung wurden im Laufe der Revolutionen des 18. Jahrhunderts von den Gründervätern präzise erarbeitet. Und noch viele weitere Namen aus jüngerer Vergangenheit könnten herbeizitiert werden, um die Korrekturen oder Vertiefungen dieser Pionierwerke zu veranschaulichen, die die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der Welt in den letzten zwei Jahrhunderten erforderlich machten.
Nichts dergleichen gilt für den Populismus. Er ist mit keinem Werk vergleichbaren Formats verknüpft, das der zentralen Stellung, die er mittlerweile angenommen hat, entsprechen würde.6 Man hat in Bezug auf ihn sogar von weicher oder schwacher Ideologie gesprochen. Solche Bezeichnungen sind trügerisch, wie seine Mobilisierungskraft beweist; und sofern sie ein Werturteil beinhalten, sind sie ohne Belang. Es trifft lediglich zu, dass diese Ideologie nicht systematisch entfaltet wurde. Und zwar ganz einfach, weil es ihren Propagandist*innen nicht als notwendig erschien, solange die Wähler*innen, die sie ansprechen, mehr für Wutgeheul und gehässige Denunziationen empfänglich sind als für theoretische Argumente.
Ziel dieses Buches ist es, einen ersten Entwurf dieser fehlenden Theorie vorzulegen. Und zwar mit dem Anspruch, dies in Begrifflichkeiten zu tun, die eine radikale – d. h. an die Wurzel gehende – Konfrontation mit der populistischen Idee ermöglichen. Das impliziert, sie als aufsteigende Ideologie des 21. Jahrhunderts anzuerkennen, eine Anerkennung, die zur Ausbildung einer fundierten Kritik auf dem Gebiet der Demokratie- und Gesellschaftstheorie erforderlich