begründen, indem man die Idee des Volkes wieder in den Mittelpunkt stellt, beruht in erster Linie auf dem Verzicht auf Analysen der sozialen Welt in Klassenbegriffen. Die Ausführungen der beiden Hauptvertreter des Linkspopulismus, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, sind in dieser Hinsicht erhellend. Aus einer marxistischen Tradition stammend, sind sie zu dem Befund gelangt, dass die Frage des Privateigentums an Produktionsmitteln, mit den sich daraus ergebenden Ausbeutungsverhältnissen, nicht mehr die einzige, ja nicht einmal die wesentliche sei, um der sozialen Spaltung der Gegenwart Rechnung zu tragen. Denn die den öffentlichen Raum strukturierenden Konflikte hätten sich heute auf neue Felder erweitert: zum Beispiel Mann-Frau-Beziehungen, territoriale Ungleichheiten, Identitäts- und Diskriminierungsfragen. Aber auch auf alles, was als Anschlag auf die persönliche Würde empfunden und als unerträgliche Form der Distanz und Herrschaft erlebt wird (die populistische Sprache greift das auf, indem sie den Leuten verspricht, ihren Stolz zurückzugewinnen, längst bevor überhaupt von einer Zunahme an Kaufkraft die Rede ist). Es gibt also in diesem Kontext nicht mehr einen Klassenkampf, der die Dinge von allein polarisieren würde; ebenso wenig wie eine Gesellschaftsklasse, die wesentliche Trägerin der menschlichen Emanzipationshoffnungen wäre (die Arbeiterklasse, das Proletariat). »Das populistische Moment«, schreibt Chantal Mouffe in diesem Sinne, »ist Ausdruck einer Reihe heterogener Forderungen, die sich nicht einfach in Form von Interessen formulieren lassen, die mit bestimmten gesellschaftlichen Kategorien verknüpft sind. Außerdem sind im neoliberalen Kapitalismus neue Formen der Unterordnung entstanden, die jenseits des Produktionsprozesses liegen. Daraus sind Forderungen entsprungen, die nicht länger mit gesellschaftlichen Sektoren korrespondieren, die man mit soziologischen Begriffen fassen oder über ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft definieren könnte. […] Daher muss die politische Frontlinie heute auf eine ›populistische‹, transversale Art und Weise konstruiert werden.«3 Die neue politische Grenze ist in ihren Augen diejenige, die zwischen »Volk« und »Oligarchie« verläuft. »Der Populismus«, folgert Laclau daraus, »ist keine Ideologie, sondern eine Konstruktionsweise des Politischen, die darauf beruht, dass die Gesellschaft zweigeteilt ist und ›die da unten‹ gegen die bestehende Macht mobilisiert werden müssen. Populismus liegt jedes Mal dann vor, wenn die Gesellschaftsordnung als wesentlich ungerecht empfunden und zum Aufbau eines neuen kollektiven Handlungssubjekts – das Volk – aufgerufen wird, das in der Lage ist, diese Ordnung von Grund auf neu zu gestalten. Ohne die Entstehung und Verallgemeinerung eines neuen globalen Kollektivwillens gibt es keinen Populismus.«4 Laclau setzt somit voraus, dass alle Forderungen und Konflikte, die die Gesellschaft durchziehen, sich am alleinigen Gegensatz zwischen den Inhabern der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Macht, die eine Einheit bilden (den Herrschenden in Bourdieus Terminologie), und dem Rest der Gesellschaft (dem Volk) ausrichten.
Sie und Wir
Laclau begreift also den Populismus als Folge einer »horizontalen Äquivalenzlogik«5, die die Gesamtheit gesellschaftlicher Forderungen zusammenfasst. Diese Zusammenfassung wird durch die Einsicht ermöglicht, dass ein gemeinsamer Feind existiert, der die Trennlinie zwischen »ihnen« und »uns« zieht. Dieser Feind kann als »Kaste«, als »Oligarchie«, als »Elite« oder als »System« im Allgemeinen identifiziert werden. Seine Existenz markiert eine »innere Grenze, die das Soziale in zwei getrennte und antagonistische Lager teilt«. Eine Sicht, die im diametralen Gegensatz zu einem »liberalen« Verständnis sozialer Konflikte und Forderungen steht, demzufolge diese stets Gegenstand von Kompromissen und Schlichtungen sein können. Beim populistischen Projekt handelt es sich demnach für Laclau um eine Radikalisierung der Politik als Entstehungs- und Aktivierungsprozess einer Freund-Feind-Beziehung. Daher der zentrale Stellenwert eines Begriffs wie »Antagonismus« bei ihm, der es ermöglicht, Konflikte zu bezeichnen, für die es keine rationale und friedliche Lösung gibt. Daher auch die mit Chantal Mouffe geteilte Faszination für das Werk von Carl Schmitt, seine politische Theorie und seinen radikalen Antiliberalismus. Eben diese Faszination macht eines der intellektuellen Bindeglieder zwischen Rechts- und Linkspopulismus aus, wie die Ähnlichkeit der Analysen eines Alain de Benoist6 mit denen von Ernesto Laclau bezeugt.
Diese Benennung eines Volksfeindes beruht nicht nur auf der Feststellung eines Interessengegensatzes oder einer Machtkonkurrenz. Sie hat auch eine instinktive Dimension, sie beruht auf der Wahrnehmung einer Distanz, einer Verachtung, einer fehlenden Empathie. Die populistischen Bewegungen legen übrigens großen Wert auf die Macht der Gefühle bei der politischen Mobilisierung und der Erzeugung des Gefühls, dass sich fremde Welten gegenüberstehen und unüberwindliche Lager zwischen »ihnen« und »uns« schaffen. Es ist der Mangel an Menschlichkeit seitens der »Kaste«, der »Elite« oder der »Oligarchie«, der den Hass rechtfertigt, den man ihnen legitimerweise entgegenbringt: sie werden als Gruppen empfunden, die sich gesellschaftlich und moralisch aus der gemeinsamen Welt verabschiedet haben. Daher die Heftigkeit der Anklage gegen diejenigen, die sich auf Kosten des Volkes »die Taschen füllen«, die Stigmatisierung der »Geldzauberer«, die Schätze »raffen« und »horten« und sich auf tausenderlei Arten von ihren Mitbürger*innen entfremden. Die Figuren des Politikers, des Milliardärs und des Technokraten verschmelzen in diesen Schmähungen zu einem Bild des Abscheus.
Die Macht eines Wortes
Das Wort »Volk« erscheint auch deshalb heute besonders sinnfällig, weil es dem, was viele Bürger*innen undeutlich empfinden, eine Sprache gibt. Während die Begriffe der traditionellen Soziologie, das statistische Vokabular der sozioprofessionellen Kategorien und die Kriterien der Verwaltungsformulare ihnen einer toten Sprache anzugehören scheinen, die weit von ihrem Leben und ihren Erfahrungen entfernt ist. Die Spaltung zwischen dem »Oben« und dem »Unten« der Gesellschaft wird nämlich auch auf ganz existenzielle Weise erlebt. Die Eliten werden beschuldigt, in einer Welt zu leben, die nicht mehr weiß, was vor ihren Türen passiert. Und das Volk definiert sich spiegelbildlich als die Welt der Männer und Frauen, die in den Augen dieser Wichtigtuer namenlos sind. Die soziale Spaltung enthält somit auch eine »kognitive Distanz«, eine Kluft zwischen den »statistischen Wahrheiten«, die die Regierenden anführen, um den Zustand der Gesellschaft zu beschreiben, und den gefühlten Lebensbedingungen. Das beliebige Individuum hat nämlich nichts mit den Durchschnittsmenschen in der heutigen Gesellschaft zu tun: Es ist immer besonders.
Die positive Wiederaufnahme des Wortes »Volk« ist in diesem Kontext zu sehen. Sein neuerlicher Gebrauch verweist nicht mehr auf eine politische Abstraktion oder eine gesichtslose Menge. Gerade in seiner Unbestimmtheit scheint es sich dem konkret fassbaren Leben eines jeden zu öffnen. Es gibt einer Gesellschaft von Individuen aufgrund seiner Empfänglichkeit für Singularitäten eine kollektive Form. Und das umso mehr als die glorreiche Geschichte, die ihm eigen ist, die Stellung derer, die sich beherrscht, unsichtbar gemacht oder in der Besonderheit ihrer Umstände eingesperrt fühlen, in gewisser Weise aufwertet. Man kann so stolz in Anspruch nehmen, zum Volk zu gehören während man sich ein wenig dafür schämt, durch einschränkende Kriterien definiert zu werden (arbeitslos zu sein, vom Mindestlohn zu leben, schlecht über die Runden zu kommen, geringe Schulabschlüsse zu haben …). Das Wort ermöglicht somit gleichzeitig, einen Wutschrei zu artikulieren und einen gewissen Adel zur Schau zu stellen.
Mit dem Gebrauch dieser vorteilhaften und polarisierenden Identifikation geht auch die mögliche Rückkehr zu rhetorischen Figuren und affektiven Ausdrucksformen einher, in denen die alten revolutionären Aversionen gegen die Privilegierten wieder aufscheinen, die als nicht zur Nation gehörig betrachtet werden, sowie jene Art von Dämonisierung des Fremden, die zu Kriegszeiten oft zu beobachten war. Die moralische Disqualifizierung spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle beim Zusammenwerfen aller jener zu einer Einheit, die, in den verschiedenen Bedeutungen des Wortes, als korrumpiert gelten. Das Volk bildet dazu den Kontrast: Es ist tugendhaft, hat Verständnis für die Leiden anderer und arbeitet hart für seinen Lebensunterhalt. Die Parallele zur Denkweise Robespierres ist hierbei umso auffälliger, als sich ein Jean-Luc Mélenchon ausdrücklich auf ihn berufen hat.7 Sie ist es übrigens auch unter dem Aspekt der Gleichsetzung politischer Gegner mit ausländischen Agenten, ihrer Beschreibung als Helfershelfer des internationalen