Pierre Rosanvallon

Das Jahrhundert des Populismus


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Organe entstellen zu lassen. Durch die direkte Demokratie habe das Land sich, ihrer Meinung nach, vor missbräuchlichen Steuern und Masseneinwanderung schützen können.5 Der direkte Appell an das Volk wurde so als Mittel präsentiert, um sich alter politisch-oligarchischer Eliten zu entledigen und gleichzeitig der Gefahr einer Invasion durch »nicht assimilierbare« Migrant*innen vorzubeugen – das traditionelle Repräsentativsystem wurde damit auf eine Art Vorgeschichte der Demokratie zurückgestuft. Alle populistischen Bewegungen übernahmen in der Folge diese Sicht der direkten Demokratie als in ihren Augen wirksames Instrument zur Ausgrenzung korrupter und unfähiger Eliten durch ein unverdorbenes und vollkommen souveränes Volk. Das Referendum weist überdies eine starke performative Besonderheit auf, da mit ihm die Wortergreifung vermeintlich einen unmittelbar tätigen Willen zum Ausdruck bringt, ganz im Gegensatz zu dem ewigen parlamentarischen Hin und Her.

      Die Umgehung des Referendums von 2005 über das europäische Verfassungsprojekt durch die parlamentarische Ratifizierung des Lissabonner Vertrages hat in Frankreich einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Wollte man den Beginn der sich ausbreitenden populistischen Welle bestimmen, wäre sicherlich dieses symbolische Datum zu nennen. Die Betonung des demokratischen Charakters von Volksabstimmungen wurde seither immer wieder der Neigung des parlamentarisch-repräsentativen Systems entgegengehalten, die Volkssouveränität in Beschlag zu nehmen. Elf Jahre später wurde in Großbritannien die Option der Bevölkerung für den Brexit in vergleichbarer Weise mit den gegenteiligen Bestrebungen der Parlamentsmehrheit kontrastiert. In ganz Europa ist ein wachsendes Interesse populistischer Kreise für die Schweizer Verfahren der Volksinitiative und der Volksabstimmung zu verzeichnen, mit denen es Christoph Blochers SVP wiederholt gelungen ist, dem Land seine Debatten aufzuzwingen. Politische Regime wiederum haben in allen Teilen der Welt häufig zum Mittel des Referendums gegriffen, um ihre Legitimität zu stärken sowie, in den meisten Fällen, die Befugnisse der Exekutive zu erweitern. Referenden nehmen somit oft den Charakter von Plebisziten an. Doch diese Frage ist in rechts- wie in linkspopulistische Zirkeln kaum je reflektiert worden, so tief ist bei ihnen die Überzeugung von der demokratischen Mustergültigkeit dieses Verfahrens verankert.

       Die polarisierte Demokratie

       Der unmittelbare Ausdruck des Volkes

      Eine solche unmittelbare Demokratie erfordert keine strukturierten politischen Organisationen, die nach dem Prinzip der internen Demokratie funktionieren; sie fördert vielmehr ein Vorgehen, sich zu einem bestehenden politischen Angebot zu bekennen. Interne Demokratie würde nämlich heißen, dass Strömungen existieren, Strategiedebatten, Konkurrenz zwischen Individuen, auf diese Weise sind Parteien üblicherweise strukturiert. Eine Bewegung kann hingegen nur ein kohärentes und zusammengehöriges Ganzes bilden, nach dem Bild des homogenen Volkes, dessen Geburtshelfer und Ausdruck sie sein will. Deshalb befindet sie sich im Einklang mit der neuen Welt der sozialen Netzwerke, in der sich die Kategorie des followers eingebürgert hat, um die typische Art der Beziehung zwischen den Individuen und einem Initiativpunkt zu bezeichnen.

      Die Medienkritik, die im Zentrum der populistischen Rhetorik steht, muss im Hinblick auf dieses Unmittelbarkeitsprinzip verstanden werden. Trumps Beschimpfungen der Journalisten, Orbáns Vorwürfe gegen die Gefolgsleute