der zu seinem Förderer wurde. Gaitán hatte mehrfach Gelegenheit, an Versammlungen von Mussolini teilzunehmen und zeigte sich beeindruckt von dessen Fähigkeit, seine Zuhörer*innen zu beherrschen und die Energie einer Menge zu steuern. Er studierte sogar sorgfältig die Gestik des Duce und seine Art, die Stimme zu modulieren, um sich der Aufmerksamkeit seines Publikums zu versichern – Techniken, die er für sein eigenes politisches Handeln in Kolumbien übernahm. Als »Kandidat des Volkes« wurde Gaitán, zugleich Antikapitalist und Gegner der traditionellen Oligarchie, im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 1948 ermordet (wir kommen später auf sein Werk zurück). Seit dieser Zeit steht sein Name symbolisch für den lateinamerikanischen Populismus, in seiner Sprache wie in seinem antioligarchischen Engagement, mitsamt seinen Ambiguitäten. Er wurde von Fidel Castro ebenso bewundert wie von Juan Perón. Perón, der sich ebenfalls als Homme-peuple verstand, der von »Depersonalisierung« sprach, um die Pläne zu bezeichnen, die die Revolution in ihm angelegt habe4, und davon überzeugt war, dass seine Individualität in der der Argentinier*innen aufgegangen sei.
Hugo Chávez, der sich ausdrücklich auf Gaitán bezog, bekräftigte diese Formel im venezuelanischen Präsidentschaftswahlkampf von 2012. »Wenn ich euch sehe«, wandte er sich üblicherweise an die versammelten Massen, »wenn ihr mich seht, dann fühle ich, dann sagt mir etwas: ›Chávez, du bist nicht mehr Chávez, du bist ein Volk. Ich bin tatsächlich nicht mehr ich, ich bin ein Volk, und ich folge euch, so empfinde ich es, ich habe mich in euch verkörpert. Ich habe es gesagt und wiederhole es: Wir sind Millionen Chávez; auch du, venezuelanische Frau, bist Chávez; und du, venezuelanischer Soldat, bist Chávez; du auch, Fischer, Ackersmann, Bauer, Händler, bist Chávez. Denn Chávez ist nicht mehr ich, Chávez ist ein ganzes Volk!«5 So lebte die alte Idee einer spiegelbildlichen Repräsentation6 wieder auf. In seiner ersten Antrittsrede als Staatspräsident hatte Chávez 1999 seinem Publikum zugerufen: »Heute verwandle ich mich in euer Werkzeug. Ich existiere kaum, und ich erfülle das Mandat, das ihr mir anvertraut habt. Bereitet euch aufs Regieren vor!«7
Die organische Führungsfigur
Die lateinamerikanischen Beispiele hatten noch bis vor Kurzem einen »exotischen« Charakter. Doch das Erstarken der Populismen zeigt eindeutig, dass dieses Verständnis der Führungsfigur als »Hommepeuple« für eine Sicht der politischen Repräsentation steht, die ihnen allen gemeinsam ist. Während des französischen Präsidentschaftswahlkampfs von 1995 hatte der Front national folgenden Spruch auf seine Plakate gedruckt: »Le Pen, le peuple«. Die Frage wurde später von denen explizit theoretisiert, die als die organischen Intellektuellen jener bereits erwähnten Strömung der Linken gelten, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. »Der Populismus«, betonte Ersterer, »erfordert als seine Entstehungsbedingung eine neuartige Vertikalität. Das Volk als Kollektivakteur muss sich um eine gewisse Identität herum bilden. Doch diese Identität ist nicht automatisch gegeben: Sie muss erzeugt werden.«8 Das bedeutet für ihn, dass neben der »horizontalen Ausdehnung demokratischer Äquivalenzen« eine »vertikale Verbindung mit einem hegemonialen Signifikanten« treten muss, »der zumeist der Name einer Führungspersönlichkeit ist«.9 Die gleiche Einschätzung findet sich bei Chantal Mouffe: »Um aus heterogenen Forderungen einen Kollektivwillen zu erzeugen«, schreibt sie, »braucht es eine Person, die ihre Einheit repräsentieren kann. Ein populistisches Moment ohne Führungsfigur kann es also nicht geben, so viel ist klar.«10
Von links aus formuliert, sorgten solche Thesen für eine gewisse Verwirrung. Sie wurden jedoch von ihren Verfasser*innen vehement verteidigt. Indem diese zunächst der von ihnen erwünschten Führungsfigur von dem »sehr autoritären Verhältnis« abgrenzten, das die Beziehungen zwischen Volk und Führer im Rechtspopulismus charakterisiere. Doch stand das Argument auf schwachen Füßen, weil es auf einem bloßen Apriori beruhte. Interessanter waren ihre Überlegungen zur allgemeinen Besonderheit des Homme-peuple. Dieser war für sie eine Führungsfigur, die als solche nur existiert, wenn sie tatsächlich das Leben und die Forderungen der Repräsentierten verkörpert; wenn sie, kurz gesagt, eine wirkliche Macht zur Verkörperung aufweist. In diesem Fall kann man sagen, dass sie idealerweise eine depersonalisierte Führungsfigur ist, eine reine Repräsentantin, eine total in ihrer Funktionalität aufgehende Figur ist, himmelweit entfernt also von jeglicher Form von Personenkult, mitsamt dem darin enthaltenen Herrschaftsverhältnis.11 Idealerweise, wohlgemerkt. Die Führungsfigur kann hier als reines Organ des Volkes betrachtet werden.12 Er ist nicht mehr nur der Gewählte oder Delegierte, das heißt der Repräsentant im verfahrenstechnischen Sinne: es ist derjenige, der das Volk präsent macht, im übertragenen Sinne des Wortes, der ihm Form und Aussehen gibt. Die zunehmende Personalisierung des politischen Lebens ist zwar ein universelles Faktum, das mit der von der Exekutive errungenen Vormachtstellung zusammenhängt (während die Legislative stets eine plurale Körperschaft ist), doch gibt es in der Figur der organischen Führungsfigur etwas spezifisch Populistisches.
In dieser Hinsicht sind die unverhohlenen Äußerungen eines Jean-Luc Mélenchon aufschlussreich, der seinen Gegnern ins Gesicht sagte: »Ich gehöre zum Volk. Ich bin niemals mehr gewesen und will es auch nicht sein; ich verachte jeden, der das Bestreben hat, mehr zu sein.«13 Eines Mélenchon, der 2017 beim Besuch des Forum Romanum ausgerufen hatte: »Cäsar stand dem Volk nahe. Es waren die Patrizier, die Feinde des Volkes, die ihn ermordeten. Das Interessante ist, Cäsar als eine volkstümliche Gestalt zu sehen.«14 Eines Mélenchon, der feststellte, dass Politik mehr denn je impliziere, »einen kollektiven Affekt zu erzeugen«, aber gleichzeitig der Ansicht war, dieser müsse »abgebaut werden, um rationale Optionen zu verankern«. Eines Mélenchon, der die Personalisierung der Macht ehrlich für »unerträglich« hält, sich aber gleichzeitig wünscht, »den tribunizischen Weg weiterzugehen«. Eines Mélenchon, der nachdenklich und zugleich entschlossen ist, die Kleider jenes Homme-peuple zu tragen, mit denen er den Populismus betreten hat. Auf die Frage, wie er denn meine, dass die einfachen Leute ihm folgen könnten, antwortete er: »Sie können sich mit mir identifizieren […]. Die Leute, denen ich auf der Straße, im Bus, in der Metro begegne, spüren instinktiv, wer ›mit ihnen‹ ist.«15 Eine solche Auffassung der Repräsentation als Verkörperung ist allgegenwärtig in der populistischen Galaxie. Selbst ein Donald Trump hatte in seiner Antrittsrede als Präsidentschaftskandidat vor dem republikanischen Konvent nicht vor den Worten zurückgeschreckt: »Ich bin eure Stimme.«16 Die Vornahme einer solchen Identifikation ist selbst schon ein Programm. Jenseits der Formulierung von Reformvorschlägen ist somit das Besondere populistischer Politik die Gründung auf ein fleischgewordenes Wort, dem eine sozusagen existenzielle Dimension innewohnt. Es wendet sich an die Affekte ebenso wie an den Verstand, wir werden auf diesen zentralen Punkt zurückkommen.
1Bezeichnenderweise sagt Jean-Luc Mélenchon über La France insoumise: »Wir wollen keine Partei sein. Die Partei ist das Werkzeug der Klasse. Die Bewegung ist die organisierte Form des Volkes«, Le 1 Hebdo, Nr. 174, 18. Oktober 2017.
2Vergleiche dazu mein Werk Le Peuple introuvable. Histoire de la représentation démocratique en France.
3Siehe Jorge Eliécer Gaitán, Escritos politicos.
4Rede vom 1. Mai 1974, in Juan Domingo Perón, El modelo argentino, Gualeguaychú 2011, S.11.
5Rede vom 12. Juli 2012. Wortwörtlich wiederholt am 9. und 24. September 2012.
6Erwähnt sei, dass der Subcommandante Marcos das permanente Tragen einer Sturmhaube seit seiner Flucht nach Chiapas (Mexiko) in diesem Sinne rechtfertigte: Als man ihn fragte, wer sich hinter der Maske verberge, antwortete er: »Wenn du wissen willst, wer Marcos ist, nimm einen Spiegel, das Gesicht, das du darin