Pierre Rosanvallon

Das Jahrhundert des Populismus


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Sicht des politischen Willens.

       Eine Auffassung von Gerechtigkeit und Gleichheit

      Die spezielle populistische Sicht dieses Gleichheitsgebots ist durch zwei wesentliche Merkmale gekennzeichnet. Sie fokussiert sich zunächst auf die Kluft zwischen dem 1% und den 99% in Sachen Verteilungsgleichheit und tendiert zugleich dazu, die übrigen Äußerungen von Ungleichheit innerhalb der Welt der 99%, die doch alles andere als homogen ist, in den Hintergrund zu rücken (und umgekehrt die Einheit des 1%-Universums vorauszusetzen). Des Weiteren legt sie den Hauptakzent auf die eigentlich zivile oder gesellschaftliche Dimension der Gleichheit, die von den herrschenden Herangehensweisen an diese Frage oft vernachlässigt wird. Aber sie tut dies auf eine spezielle Weise. Sie wertet nämlich die Begriffe der Identität und Homogenität auf, um die Beschaffenheit einer »guten Gesellschaft« zu beschreiben, die eine demokratische Nation bildet. Und auf diese Weise verknüpft sich die Sicht der Gleichheit mit dem nationalprotektionistischen Verständnis der Wirtschaft. Die protektionistische Vorstellung setzt nämlich voraus, dass es eine gut entwickelte Einheit gibt, die zu verteidigen wäre, eine Einheit, die sich eindeutig von dem unterscheidet, was ihr äußerlich wäre. Der Begriff der Gleichheit verschmilzt also in diesem Fall mit dem der Einbeziehung in ein homogenes Ganzes. In diesem Sinne verstanden, bildet die Zugehörigkeit zur Nation eine Form negativer Gleichheit, die eine als Distanzgemeinschaft definierte Gruppe erzeugt. Mit Ausländer*innen, in juristisch offenkundiger Weise, aber im weiteren Sinne mit allen Arten von Unerwünschten oder Feinden, die am Ende mit ihnen gleichgesetzt werden. Das Gefühl der Gleichheit speist sich in diesem Fall aus der ständigen Notwendigkeit, diese Distanz wiederzubeleben. Das trägt dazu bei, die »internen« Ungleichheiten zu relativieren und sie im Wesentlichen als Folge der Globalisierung zu betrachten, mit der Ausdehnung der Marktsphäre, der gesteigerten individuellen Mobilität, der Verschärfung der Konkurrenz und der liberalen Wertschätzung der sich daraus ergebenden Differenzen.

       Der Protektionismus als Sicherheitsinstrument

      Die Kontrolle einer Grenze, vor allem durch den Bau von Mauern oder Zäunen, ist ein wesentlicher Modus zur Bekräftigung einer Souveränität über ein Territorium. Sie ist auch unmittelbarer Ausdruck einer Sicherheitspolitik nach Art und Vorbild der antiken Wälle, die die Städte umgaben. Es besteht eine Kontinuität zwischen diesem physischen Protektionismus und politischen Strategien der inneren Sicherheit. Das Aufhalten von Ausländer*innen und Unerwünschten an den Grenzen hat somit teil an einer erweiterten Vision der Sicherheit als Fernhalten von Bevölkerungen, die als Gefährdung der nationalen Einheit gelten. Der Begriff der kulturellen Unsicherheit ergänzt diesen Ansatz, indem er zur Ablehnung von Ideologien auffordert, die als bedrohlich für die Identität des Volkes gelten (islamische Bevölkerungsgruppen vereinen beide Zuschreibungen). Unabhängigkeit heißt somit auch Verteidigung von Identität und Homogenität in allen Formen. Die verschiedenen Facetten des Nationalprotektionismus bilden somit ein wesentliches Moment der politischen Kultur des Populismus.

      1Rede vom 1. April 1846 (in der Diskussion über den Handelsvertrag mit Belgien), in: François Guizot, Histoire parlementaire de France, Band 5, S.120.

      2Friedrich List, Das nationale System der Politischen Ökonomie, S.70. List unterschied sich von Fichte, dessen Geschlossener Handelsstaat (1800) einen autarkiepolitischen Protektionismus befürwortete.

      3Gemäß der berühmten Losung »There is no alternative« (TINA).

      4Siehe dazu das typische Werk von Alain Supiot, La Gouvernance par les nombres. Nebenbei bemerkt ist die Frage der vergleichenden Vorteile einer Regierung nach festen Regeln und eines Vorrangs der politischen Entscheidung Gegenstand einer umfangreichen wirtschaftstheoretischen Literatur. Siehe den grundlegenden Artikel von Finn E. Kydland und Edward C. Prescott, »Rules Rather than Discretion: The Inconsistency of Optimal Plans«, Journal of Political Economy, Bd. 85, Nr. 3, 1977.

      5Marine Le Pen, Pour que vive la France (Buchmanifest für die Präsidentschaftswahlen von 2012).

      6Jacques Généreux,