Arthur Conan Doyle

Die Memoiren des Sherlock Holmes


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wundert mich nicht, daß du überrascht bist‹, sagte sie, und ich konnte sehen, daß ihre Finger zitterten, als sie die Schnallen ihres Mantels öffnete. ›Ich erinnere mich ja selbst nicht daran, jemals in meinem Leben so etwas getan zu haben. Tatsächlich hatte ich ein Gefühl, als würde ich ersticken, und verspürte ein regelrechtes Verlangen, ein wenig frische Luft zu schnappen. Ich glaube wirklich, ich wäre ohnmächtig geworden, wenn ich nicht nach draußen gegangen wäre. Ich habe ein paar Minuten vor der Tür gestanden, und jetzt bin ich wieder ganz wohlauf.‹

      Während sie mir diese Geschichte erzählte, sah sie kein einziges Mal zu mir her, und ihre Stimme klang ganz anders als ihr üblicher Tonfall. Es war offenkundig für mich, daß sie die Unwahrheit sagte. Ich gab ihr keine Antwort, sondern drehte das Gesicht zur Wand, wehen Herzens, den Kopf voll tausend giftiger Zweifel und Verdächtigungen. Was verbarg meine Frau da vor mir? Wo war sie während jenes seltsamen Ausflugs gewesen? Ich fühlte, daß ich keinen Frieden finden würde, bis ich es wußte, und schreckte dennoch vor weiteren Fragen zurück, nachdem sie mir schon einmal die Unwahrheit gesagt hatte. Den Rest der Nacht warf und wälzte ich mich hin und her, legte mir Theorie auf Theorie zurecht, eine unwahrscheinlicher als die andere.

      Ich hätte am folgenden Tag in die Stadt fahren müssen, aber ich war zu beunruhigt, um mich geschäftlichen Angelegenheiten zuzuwenden. Meine Frau schien ebenso durcheinander wie ich selbst, und an den kurzen, fragenden Blicken, die sie mir immer wieder zuwarf, erkannte ich, daß sie begriff, daß ich ihrer Darstellung nicht glaubte, und daß sie nicht mehr ein noch aus wußte. Wir wechselten beim Frühstück kaum ein Wort, und ich machte unmittelbar danach einen Spaziergang, um die Sache an der frischen Morgenluft zu überdenken.

      Ich ging bis zum Crystal Palace16, verbrachte eine Stunde in den Anlagen und war um ein Uhr wieder zurück in Norbury. Es traf sich, daß mein Weg mich an dem Cottage vorbeiführte, und ich blieb einen Moment stehen und sah zu den Fenstern hin, ob ich nicht einen Blick auf das Gesicht erhaschen könnte, das am Vortage zu mir herausgestarrt hatte. Stellen Sie sich mein Erstaunen vor, Mr. Holmes, als, wie ich so dastand, plötzlich die Tür aufging und meine Frau herauskam.

      Die Verblüffung ob ihres Anblicks verschlug mir die Sprache, aber meine Gefühle waren nichts gegen die, die sich auf ihrem Gesicht abzeichneten, als sich unsere Blicke trafen. Einen Moment lang schien sie wieder ins Haus zurückweichen zu wollen, doch als sie dann erkannte, wie nutzlos alles Versteckspiel sein mußte, trat sie vor mit kreideweißem Gesicht und einem entsetzten Blick, die das Lächeln auf ihren Lippen Lügen straften.

      ›Oh, Jack!‹ sagte sie, ›ich bin gerade mal hier gewesen, um zu sehen, ob ich unseren neuen Nachbarn nicht behilflich sein kann. Warum siehst du mich so an, Jack? Du bist doch nicht böse auf mich?‹

      ›Also‹, sagte ich, ›hierher bist du in der Nacht gegangen?‹

      ›Was soll das heißen?‹ rief sie.

      ›Du bist hierher gekommen. Dessen bin ich sicher. Wer sind diese Leute, daß du sie zu solcher Stunde besuchst?‹

      ›Ich bin noch nie hier gewesen.‹

      ›Wie kannst du so etwas behaupten, wo du weißt, daß es die Unwahrheit ist?‹ rief ich. ›Selbst deine Stimme ändert sich, während du sprichst. Wann habe ich je ein Geheimnis vor dir gehabt? Ich will jetzt rein in dieses Cottage und dieser Angelegenheit mal auf den Grund gehen.‹

      ›Nein, nein, Jack, um Gottes willen!‹ stieß sie in nicht zu bezähmender Erregung hervor. Und als ich auf die Tür zutrat, packte sie mich am Ärmel und zerrte mich mit krampfhafter Kraft zurück.

      ›Bitte, bitte, tu es nicht, Jack‹, rief sie. ›Ich schwöre, daß ich dir eines Tages alles erzähle, aber es kann nur Unglück bringen, wenn du jetzt in dieses Cottage gehst.‹ Und als ich versuchte, sie abzuschütteln, klammerte sie sich in rasendem Flehen an mich.

      ›Vertrau mir, Jack!‹ rief sie. ›Vertrau mir nur dieses eine Mal. Du wirst nie Grund haben, es zu bereuen. Du weißt, daß ich kein Geheimnis vor dir haben würde, wenn es nicht zu deinem eigenen Besten wäre. Unser ganzes Leben steht hier auf dem Spiel. Wenn du mit mir nach Hause kommst, wird alles gut. Wenn du dir gewaltsam Zutritt zu diesem Cottage verschaffst, ist alles vorbei zwischen uns.‹

      Ein solcher Ernst, eine solche Verzweiflung lag in ihrem Verhalten, daß ihre Worte mir Einhalt geboten und ich unentschlossen vor der Tür stand.

      ›Ich vertraue dir unter einer Bedingung, und nur unter einer Bedingung‹, sagte ich schließlich. ›Nämlich, daß diese Heimlichtuerei von nun an ein Ende hat. Es steht dir frei, dein Geheimnis zu bewahren, aber du mußt mir versprechen, daß es keine nächtlichen Besuche mehr geben wird, nichts mehr, was hinter meinem Rücken geschieht. Ich bin bereit, das zu vergessen, was passiert ist, wenn du versprichst, daß in Zukunft nichts dergleichen mehr vorkommt.‹

      ›Ich war sicher, daß du mir vertrauen würdest‹, rief sie mit einem lauten Seufzer der Erleichterung. ›Es wird genau so geschehen, wie du es wünschst. Komm weg, oh, komm weg nach Hause!‹ Immer noch an meinem Ärmel zerrend, führte sie mich von dem Cottage weg. Im Gehen warf ich einen Blick zurück, und da war jenes gelbe, leichenfahle Gesicht und beobachtete uns aus dem oberen Fenster. Welche Verbindung konnte zwischen dieser Kreatur und meiner Frau bestehen? Was konnte das grobe, ungehobelte Weib, das ich am Tage zuvor gesehen hatte, mit ihr zu tun haben? Es war ein befremdliches Rätsel, und doch wußte ich, daß ich so lange keinen Seelenfrieden mehr finden würde, bis ich es gelöst hatte.

      Danach blieb ich zwei Tage zu Hause, und meine Frau schien sich getreulich an unsere Vereinbarung zu halten, denn soweit ich wußte, tat sie keinen Schritt aus dem Haus. Am dritten Tage indes bekam ich reichlich Beweise, daß ihr feierliches Versprechen nicht ausreichte, sie von dem geheimnisvollen Einfluß fernzuhalten, der sie ihrem Gatten und ihrer Pflicht entzog.

      Ich war an jenem Tag in die Stadt gefahren, aber ich kehrte mit dem Zug um 2 Uhr 40 anstatt mit dem um 3 Uhr 36 zurück, den ich gewöhnlich nehme. Als ich ins Haus kam, lief das Dienstmädchen mit bestürztem Gesicht in die Diele.

      ›Wo ist Ihre Herrin?‹ fragte ich.

      ›Ich glaube, sie ist spazieren gegangen‹, antwortete sie.

      Sofort war ich von Argwohn erfüllt. Ich eilte nach oben, um mich zu vergewissern, daß sie nicht zu Hause war. Dabei schaute ich zufällig aus einem der oberen Fenster und sah das Mädchen, mit dem ich gerade gesprochen hatte, übers Feld auf das Cottage zulaufen. Da erkannte ich natürlich genau, was das alles zu bedeuten hatte. Meine Frau war hinübergegangen und hatte der Dienstbotin aufgetragen, sie zu holen, falls ich zurückkommen sollte. Vor Zorn bebend raste ich hinunter und stürmte hinüber, entschlossen, der Sache ein für allemal ein Ende zu machen. Ich sah meine Frau und das Mädchen auf dem Feldweg zurückeilen, aber ich blieb nicht stehen, um mit ihnen zu sprechen. In dem Cottage war das Geheimnis beschlossen, das einen Schatten über mein Leben warf. Ich schwor mir, daß es, komme, was da wolle, nicht länger ein Geheimnis bleiben sollte. Ich klopfte nicht einmal, als ich es erreichte, sondern drehte den Knauf und platzte in den Flur.

      Im Erdgeschoß war alles still und ruhig. In der Küche sang ein Kessel auf dem Feuer, und eine große, schwarze Katze lag zusammengerollt in einem Korb, aber von der Frau, die ich zuvor gesehen hatte, gab es keine Spur. Ich rannte ins andere Zimmer, aber es war ebenfalls verlassen. Dann stürzte ich die Treppe hinauf, aber nur um zwei weitere leere und verlassene Zimmer vorzufinden. Es befand sich überhaupt niemand im ganzen Haus. Die Möbel und Bilder waren von der minderwertigsten und gewöhnlichsten Art, ausgenommen in der einen Kammer, an deren Fenster ich das seltsame Gesicht erblickt hatte. Diese war komfortabel und elegant, und all mein Argwohn loderte zu einer heftigen, schmerzlichen Flamme empor, als ich sah, daß auf dem Kaminsims ein Vollportrait meiner Frau stand, eine Photographie, die erst vor drei Monaten auf meinen Wunsch angefertigt worden war.

      Ich blieb lange genug, um sicherzugehen, daß das Haus vollkommen leer war. Dann ging ich hinaus, mit einer Bürde auf dem Herzen, wie ich sie noch nie zuvor verspürt hatte. Meine Frau kam in die Diele, als ich mein Haus betrat, aber ich war zu verletzt und wütend, um mit ihr zu sprechen, und drängte mich an ihr vorbei in mein Arbeitszimmer.