andere nach sich. Der Vorfall mit Simpson hatte mir gezeigt, daß man in den Ställen einen Hund hielt, aber obwohl jemand hineingegangen war und ein Pferd herausgeholt hatte, hatte er nicht laut genug gebellt, um die beiden Burschen auf dem Futterboden zu wecken. Offensichtlich war der mitternächtliche Besucher jemand, den der Hund gut kannte.
Ich war bereits überzeugt, oder fast überzeugt, daß John Straker mitten in der Nacht zu den Ställen hinübergegangen war und Silberstern herausgeholt hatte. In welcher Absicht? Offensichtlich keiner ehrenhaften, denn warum sollte er seinen eigenen Stallburschen betäuben? Und doch wußte ich einfach nicht, warum. Es hat schon Fälle gegeben, wo Trainer sich große Summen Geldes verschafft haben, indem sie durch Mittelsmänner gegen ihre eigenen Pferde gesetzt und dann durch Betrug dafür gesorgt haben, daß sie nicht gewannen. Manchmal ist es ein Jockey, der das Pferd verhält. Manchmal ist es ein sichereres und subtileres Mittel. Was war es hier? Ich hoffte, daß mir sein Tascheninhalt zu einer Schlußfolgerung verhelfen könnte.
Und so war es auch. Gewiß erinnern Sie sich noch an das eigenartige Messer, das man in der Hand des Toten fand, ein Messer, das kein vernünftiger Mensch als Waffe wählen würde. Es handelte sich, wie Dr. Watson uns gesagt hat, um ein Messer, wie man es für die heikelsten Operationen verwendet, die die Chirurgie kennt. Und in dieser Nacht sollte es für eine heikle Operation verwendet werden. Bei Ihrer umfassenden Erfahrung im Renngeschäft wissen Sie bestimmt, Colonel Ross, daß es möglich ist, einen winzigen Einschnitt in die Sprunggelenksehne des Pferdes vorzunehmen, und zwar so, daß bei geschickter Ausführung11 nicht die geringste Spur zu sehen ist. Ein so behandeltes Pferd geht geringfügig lahm, was man auf Überanstrengung beim Training oder einen leichten Anfall von Rheumatismus, jedoch niemals auf unsaubere Machenschaften zurückführen würde.«
»Schurke! Schuft!« schrie der Colonel.
»Da haben wir die Erklärung, warum John Straker das Pferd ins Moor hinaus führen wollte. Ein so feuriges Geschöpf hätte bestimmt den größten Tiefschläfer geweckt, wenn es den Stich des Messers gespürt hätte. Es war absolut notwendig, es im Freien zu tun.«
»Ich war blind!« rief der Colonel. »Natürlich, deswegen brauchte er auch die Kerze und zündete das Streichholz an.«
»Zweifellos. Aber bei der Überprüfung seiner Habseligkeiten hatte ich das Glück, nicht nur die Methode des Verbrechens, sondern auch dessen Motive zu entdecken. Als Mann von Welt wissen Sie, Colonel, daß man nicht die Rechnungen anderer Leute mit sich herumträgt. Wir haben größtenteils schon genug damit zu tun, unsere eigenen zu begleichen. Daraus folgerte ich, daß Straker ein Doppelleben führte und ein zweites Domizil unterhielt. Die Art der Rechnung bewies, daß eine Dame in den Fall verwickelt war, und zwar eine mit kostspieligen Neigungen. So großzügig Sie gegenüber Ihren Angestellten auch sind, erwartet man doch kaum, daß diese für ihre Frauen Ausgehkleider für zwanzig Guineen kaufen können. Ich habe Mrs. Straker nach dem Kleid befragt, ohne daß es ihr auffiel, und als ich mich vergewissert hatte, daß es nie bis zu ihr gelangt war, notierte ich mir die Adresse der Putzmacherin mit dem Gefühl, bloß dort vorsprechen zu müssen mit Strakers Photographie, und der sagenumwobene Darbyshire würde sich von selbst erledigen.
Von da an war alles ganz klar. Straker hatte das Pferd in eine Senke geführt, wo man sein Licht nicht würde sehen können. Simpson hatte auf der Flucht sein Halstuch fallen lassen, und Straker hatte es aufgehoben, vielleicht in der Absicht, damit dem Pferd das Bein festzubinden. In der Senke war er hinter das Pferd getreten und hatte ein Streichholz entzündet, doch Silberstern, von dem plötzlichen Aufleuchten erschreckt und aus dem seltsamen Instinkt heraus, der Tiere spüren läßt, wenn jemand Übles im Sinn hat, schlug aus, und das Hufeisen traf Straker voll an der Stirn. Trotz des Regens hatte er schon seinen Mantel ausgezogen, um sein heikles Vorhaben auszuführen, und so schlitzte das Messer seinen Oberschenkel, als er fiel. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«
»Wunderbar!« rief der Colonel aus. »Wunderbar! Als wären Sie dabeigewesen.«
»Mein letzter Schuß war, das gebe ich zu, ein ausgesprochener Glückstreffer. Es kam mir in den Sinn, daß ein geriebener Mensch wie Straker etwas so Heikles wie das Anschneiden einer Sehne nicht ohne ein wenig Übung wagen würde. Woran konnte er üben? Mein Blick fiel auf die Schafe, und ich stellte eine Frage, die, sehr zu meiner Überraschung, ergab, daß meine Vermutung zutraf.«
»Sie haben es vollkommen klar gemacht, Mr. Holmes.«
»Als ich nach London zurückkam, sprach ich bei der Putzmacherin vor, die Straker sofort als ausgezeichneten Kunden namens Darbyshire erkannte, der eine höchst elegante Frau mit einer großen Vorliebe für kostspielige Kleider habe. Ich zweifle nicht daran, daß diese Frau ihn bis über beide Ohren in Schulden gestürzt und so zu diesem nichtswürdigen Komplott verleitet hat.«
»Sie haben alles erklärt, mit einer Ausnahme«, rief der Colonel. »Wo war das Pferd?«
»Ach, es ging durch, und einer Ihrer Nachbarn hat sich seiner angenommen. In dieser Hinsicht sollten wir eine Amnestie ergehen lassen, denke ich. Das ist Clapham Junction, wenn ich mich nicht irre, und wir werden in weniger als zehn Minuten in Victoria sein. Sollten Sie Lust haben, in unseren Räumen eine Zigarre zu rauchen, Colonel, würde ich mich glücklich schätzen, Ihnen alle weiteren Details zu erläutern die Sie vielleicht noch interessieren.«
Das gelbe Gesicht
Bei der Veröffentlichung dieser kurzen Skizzen, die auf den zahlreichen Fällen beruhen, an denen ich, dank den einzigartigen Fähigkeiten meines Freundes, als Zuhörer und in manch seltsamem Drama gar als Akteur teilhatte, ist es nur natürlich, daß ich eher auf seine Erfolge denn auf seine Mißerfolge eingehe. Und dies geschieht nicht so sehr um seines Rufes willen, denn tatsächlich waren seine Energie und Vielseitigkeit immer dann am bewundernswertesten, wenn er mit seinem Latein am Ende war, sondern weil es dort, wo er scheiterte, sehr oft vorkam, daß auch kein anderer Erfolg hatte und die Geschichte für immer ohne Abschluß blieb. Dann und wann allerdings geschah es, daß die Wahrheit, selbst wenn er fehlging, trotzdem ans Licht kam. Ich habe Aufzeichnungen von einem runden halben Dutzend derartiger Fälle, von denen die Affaire des zweiten Flecks12 und die, von der ich jetzt berichten will, wohl die interessantesten Merkmale aufweisen.
Sherlock Holmes war ein Mensch, der sich selten um der Bewegung willen Bewegung machte. Wenige Männer waren zu größeren Kraftanstrengungen fähig, und er war in seiner Gewichtsklasse zweifellos einer der besten Boxer, die ich je gesehen habe; doch er betrachtete zweckfreie körperliche Betätigung als Energieverschwendung, und er rührte sich selten, außer wenn es irgendeinem beruflichen Ziel diente. Dann war er absolut ausdauernd und unermüdlich. Daß er sich unter solchen Umständen in Form halten konnte, ist bemerkenswert, andererseits war seine Kost überaus kärglich und seine Gewohnheiten einfach bis an die Grenze der Selbstkasteiung. Bis auf den gelegentlichen Gebrauch von Kokain hatte er keine Laster, und er nahm seine Zuflucht zu der Droge nur aus Protest gegen die Monotonie des Daseins, wenn die Fälle rar und die Zeitungen uninteressant waren.
Eines Tages zu Beginn des Frühjahrs hatte er sich so weit entspannt, daß er mich auf einen Spaziergang in den Park begleitete, wo auf den Ulmen die ersten zarten, grünen Schößlinge sprossen und die klebrigen Speerspitzen der Kastanien gerade zu fünffingrigen Blättern aufzuplatzen begannen. Zwei Stunden lang bummelten wir umher, zumeist schweigend, wie es zwei Männern ansteht, die miteinander vertraut sind. Es war schon fast fünf, als wir in die Baker Street zurückkehrten.
»Verzeihung, Sir«, sagte unser junger Hausdiener, als er die Tür öffnete; »da ist ein Gentleman dagewesen und hat nach Ihnen gefragt, Sir.«
Holmes warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Das hat man von Nachmittagsspaziergängen!« sagte er. »Dann ist dieser Gentleman also gegangen?«
»Ja, Sir.«
»Hast du ihn nicht hereingebeten?«
»Doch, Sir; er ist hereingekommen.«
»Wie lange hat er gewartet?«
»Eine halbe Stunde, Sir. Es war ein sehr unruhiger Gentleman, Sir, die ganze Zeit herumgelaufen und -gestampft, solange er da war. Ich hab vor der Tür