sein könnte.
Eine Mitarbeiterin, mit der Berset im selben Sitzungszimmer war, ist positiv getestet worden. Berset schottet sich sofort ab. Der Coronatest wird am nächsten Morgen, am 8. April um 6 Uhr früh, durchgeführt. Das Militär bringt die Probe umgehend ins Labor Spiez.
Es sind dunkle Tage für die Schweiz. Eben erst ist der Bevölkerung schmerzlich bewusst geworden, dass ihr Land trotz seinem Reichtum und seinem sehr guten Gesundheitssystem keineswegs gut auf die Seuche vorbereitet ist. Schlimmer noch: Die Zahlen der Corona-Neuinfektionen und der Toten sind höher als in den meisten anderen Nationen.
Wie konnte das passieren? Wie viele wird es noch treffen? Wie kommt die Schweiz da wieder raus? Die bangen Fragen stellen sich am Anfang der Karwoche viele. Auf den folgenden Seiten werden wir darauf Antworten geben.
Wir, das sind vierzehn Investigativjournalistinnen und -journalisten vom erweiterten Recherchedesk des Verlagshauses Tamedia. Wir begleiteten besonders exponierte Menschen aus der ganzen Schweiz durch ein halbes Jahr Coronakrise – mit dem Ziel, ihr Erleben, ihre Handlungen, ihre Gedanken und Gefühle in den schweren Monaten für die Nachwelt festzuhalten.
Die Tochter und die beiden Söhne des Ehepaars Anne-Lise und Henri-Paul Cornu erzählen uns, was das Virus in ihrer Familie angerichtet hat. Bundesrat Alain Berset gewährt uns Einblick in sein Krisenmanagement und in seine persönliche Betroffenheit. Zu unseren Schlüsselpersonen zählen zudem Menschen wie die Leiterin der Intensivpflege in einem Tessiner Spital. Maria Pia Pollizzi* nahm den ersten Schweizer Covid-19-Patienten auf und begleitete fortan viele auf ihrem Weg zur Genesung – oder beim Sterben. Die Zeugnisse unserer Schlüsselpersonen haben wir mit den Ergebnissen weiterer intensiver Recherchen verwoben.
Dazu gehörte die Auswertung amtlicher Dokumente, die wir uns mit dem Öffentlichkeitsgesetz beschaffen konnten. Dank über 50 Protokollen vertraulicher Sitzungen wird klar, wie die verschiedenen Taskforces und Krisenstäbe des Bundes agierten.
Zudem haben wir mit über 50 weiteren Personen geredet, unter ihnen Politikerinnen, Epidemiologen, Klinikleiter, Parlamentarier und Ärztinnen. Insgesamt führten wir über 200 Stunden Recherchegespräche.
So entstand eine Chronik jenes halben Jahres, in dem die Schweiz in ihrer bislang schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg steckte. Erzählt wird sie von Menschen, die persönlich schwer getroffen wurden. Und von Menschen aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Medizin, die das Virus bekämpfen. Von Menschen wie Ricarda Luzio*, einer Spitalapothekerin aus Luzern.
AB MITTE JANUAR irritiert Ricarda Luzio etwas.
Sie fährt auch im Winter täglich mit dem Velo zur Arbeit. Dies ist zu Beginn des Jahres 2020 weniger beschwerlich als in anderen Jahren, denn der Schnee fehlt im Unterland gänzlich, und die Sonne scheint in der Zentralschweiz so häufig wie nie seit Beginn der Aufzeichnungen. Ricarda Luzio ist Chefapothekerin in der Hirslanden-Klinik St. Anna in Luzern.
Auf dem Weg von ihrer Wohnung in der Luzerner Neustadt an ihren Arbeitsort überquert die 43-Jährige die stark befahrene Seebrücke, die für gewöhnlich voller Touristen ist. Die Sicht auf den See und die Stadt ist von hier aus bezaubernd.
Ihre Irritation: Hat es weniger chinesische Touristen in der Stadt? Oder täuscht der Eindruck?
In der Pause erzählt eine Mitarbeiterin der Chefapothekerin, der Schwanenplatz, sonst übervoll mit Reisecars, sei leer. Sie reden über dieses »neuartige Coronavirus« in China, über das die Medien schreiben. Alle sind sich einig: Das ist nichts im Vergleich zu einer saisonalen Grippe, denn daran sterben in der Schweiz pro Jahr mehrere Hundert Menschen. Die Diskussion nimmt rasch ein Ende.
Ricarda Luzio debattiert auch zu Hause über das noch unbekannte Virus. Ihr Mann arbeitet als Leitender Arzt am Kantonsspital Luzern, wo bald ein ganzes Stockwerk für Coronapatienten leer geräumt wird. Beide erachten den Erreger in diesen Januartagen als vergleichsweise harmlos, die Angst davor übertrieben. »Das ging, glaube ich, zu Beginn vielen so«, sagt Luzio. »Sogar wir vom Fach haben das Virus unterschätzt.« Wenn ihre Kollegen auf sie zukommen, beschwichtigt sie, wenn Pharmaassistentinnen nachfragen, winkt sie ab. Das Virus ist weit weg – in dieser Riesenstadt namens Wuhan, die im Westen kaum jemand kennt.
AM 16. JANUAR fliegt eine 30-köpfige Touristengruppe aus ebendiesem Wuhan nach Rom. Neun Tage wird sie in Europa verbringen, erst ist die Gruppe in Italien, später in Frankreich und dazwischen zwei Tage in der Schweiz, einen grossen Teil im Kanton Luzern. Schon auf dem Hinflug fühlt sich eine 53-jährige Reiseteilnehmerin kränklich. Sie hustet.
Als die Gruppe mit ihr am 19. Januar in einem gecharterten Bus die italienisch-schweizerische Grenze passiert, kennt Europa noch keine Gesundheitskontrollen, keine Reisebeschränkungen und erst recht keine unüberwindbaren Barrieren. Der Kontinent fühlt sich zu diesem Zeitpunkt sicher vor dem Virus.
Die Reisegruppe aus Wuhan erwartet eine sonnige Schweiz und ein gedrängtes Programm. Die 53-Jährige, die bereits auf dem Hinflug hustete, trägt keine Schutzmaske. In Luzern verlassen die chinesischen Touristen den Bus, steigen in einen Panoramazug. Die »Golden Pass Line« bringt sie über den tief verschneiten Brünig nach Interlaken. Die Fahrt dauert knapp zwei Stunden.
Die Gruppe aus Wuhan übernachtet vom 19. auf den 20. Januar in einem Hotel in Sursee, das ausschliesslich Reisegruppen beherbergt, die schnell nach Luzern oder ins Berner Oberland wollen und dann weiterziehen. In unserem Fall weiter nach Paris.
In der französischen Hauptstadt fühlt sich die kränkelnde Touristin noch immer nicht wohl. Inzwischen hat sie offenbar ihre Tochter angesteckt. Bei der 29-Jährigen zeigen sich am ersten Tag in Paris Symptome, wie sie typisch scheinen für den wenig bekannten Erreger. Die Gruppe besucht die klassischen Touristenattraktionen und fliegt am 24. Januar zurück nach China.
Von den 30 Reisenden erkranken schliesslich fünf in einer ähnlichen Art. Drei davon werden getestet, allerdings erst nach ihrer Rückkehr, als Wuhan bereits unter Quarantäne steht. Alle drei sind Sars-CoV-2-positiv.
* Die Schlüsselpersonen dieses Buches sind, wenn sie das erste Mal erscheinen, mit einem Stern gekennzeichnet und werden ab Seite 323 vorgestellt.
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