Fee hinab. »Du bist schneeweiß.«
In Zeitlupe hob sie den Kopf und sah ihren Sohn an. Wie Lichtblitze zuckten Bilder in wildem Durcheinander durch ihren Kopf. Janni als Baby, mit der lustigen Zipfelmütze auf dem Kopf, die Lenni ihm gestrickt hatte. Im Blumenbeet nach dem Sturz vom Longboard. Janni zwischen Chipstüten und Schokoladenpapier beim Computerspielen. Janni mit der selbstgebastelten Drachenschultüte. Nach seinem Einbruch im Eis auf der Intensivstation. Das Entsetzen auf seinem Gesicht, als Fee seinen Computer aus dem Fenster werfen wollte. Ein Lächeln erhellte ihr Miene wie die Sonne den Himmel.
»Weißt du noch, als ich deinen Computer aus dem Fenster werfen wollte?«
»Das war der schrecklichste Moment in mein …« Mitten im Satz hielt Jan inne. »Du erinnerst dich?«
Felicitas nickte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht verriet, dass sie es selbst noch nicht glauben konnte. Sie spürte das Kästchen in ihrer Hand und hielt es hoch.
»Die Musik … an dem Morgen meines Zusammenbruchs habe ich Einaudi gehört.«
Jan fiel seiner Mutter um den Hals. Er führte einen Freudentanz auf, bis Fee ihn lächelnd von sich schob. Die Aufmerksamkeit der anderen Patienten war ihr unangenehm. Nicht alle Menschen hatten so wie sie Grund, fröhlich zu sein.
Jan hielt nichts von vornehmer Zurückhaltung. Er stieß die Faust in die Luft.
»Dann hatte ich also doch recht.« Er berichtete, wie er Schwester Elena lang und breit von der Wirkung von Musik auf den menschlichen Organismus erzählt hatte. Trotzdem hatte sie ihm nicht erlaubt, seine Mutter diesem Experiment zu unterziehen.
»Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Sie ist gerade eingeschlafen«, hatte sie ihm gesagt.
So war der MP3-Spieler in der Schublade verschwunden und in Vergessenheit geraten.
»Wäre Elena nicht gewesen, hättest du deine Erinnerung schon viel früher wiederfinden können«, schimpfte er.
Felicitas wackelte mit dem Kopf.
»Das werden wir nie erfahren. Wahrscheinlich haben mehrere Dinge zusammengespielt, um die Tür wieder zu öffnen.« Sie griff nach der Hand ihres Sohnes und drückte sie. »Zum Beispiel euer Glaube an mich.« Ihre Stimme war kratzig vor Rührung. »Eure Unterstützung. Obwohl ihr nicht sicher sein konntet, ob ich euch je wieder erkennen würde.« Dieser Gedanke tat ihrem Herzen nicht gut. Sie schob ihn schnell zur Seite.
Jan war ihr dankbar dafür.
»Bitte nicht weinen. Frauentränen sind das Allerschlimmste für einen Mann.«
Wie so oft war es kompliziert. Immerhin waren Tränen nicht gleich Tränen. Es galt zu unterscheiden zwischen Tränen, die wegen eines traurigen Films vergossen wurden. In diesem Fall brauchte eine Frau die klassische, starke Schulter zum Anlehnen. Die Sicherheit, ihren Gefühlen freien Lauf lassen zu können. Mehr war nicht nötig. Dummerweise verhielt es sich mit Tränen wegen eines Unglücks ganz anders. Bei Schicksalsschlägen wie Arbeitslosigkeit oder dem Verlust eines geliebten Menschen war es das Wichtigste zuzuhören. In diesen Fällen musste ein Mann zeigen, dass er für sie da war. Phrasen wie ›Das wird schon wieder‹ waren strengstens verboten, echtes Interesse das Wertvollste, das ein Mann bieten konnte. Aber was, wenn ein Mann selbst die Tränen verursacht hatte? Dann half nur noch, die Schuld zu bekennen und sich ernsthaft zu entschuldigen. Drei verschiedene Reaktionen auf weibliche Tränen? Zum Glück ersparte Felicitas ihrem Sohn, das Problem mit einer Wahrscheinlichkeitsrechnung zu lösen. Sie schluckte die Tränen hinunter, sammelte ihre Siebensachen zusammen, die sie um sich herum verstreut hatte, und stand auf.
»Du hast recht. Ich habe überhaupt keinen Grund zum Weinen. Ganz im Gegenteil!« Sie machte ein paar Schritte.
Wie angewurzelt stand Jan da und sah seiner Mutter nach.
»Wo willst du hin?«, fragte er. »Das Taxi steht draußen. Nicht hier in der Lobby.«
»Ich muss zu deinem Vater! Kümmerst du dich um meine Tasche?« Sie deutete auf die grüne Reisetasche neben dem Lounge-Sofa, ehe sie sich abwandte und winkend davon ging.
*
Tobias Lichte lag im Bett und sah seiner Frau dabei zu, wie sie mit verschränkten Armen vor dem Fußende auf und ab ging. Immer wieder hob sie den Arm, zog den Ärmel zurück. Die Uhr blitzte auf.
»Du kannst wirklich gehen, Natascha.«
Sie blieb stehen. Die Bettumrandung aus Chrom beschlug unter ihren Händen.
»Ich habe überhaupt kein gutes Gefühl, dich hier allein zu lassen.«
Tobias lächelte.
»Du bist ein Schatz.« Er hauchte einen Kuss durch die Luft. »Aber du kannst wirklich fahren. Denk an dein Konzert! An all die Menschen, die viel Geld bezahlt haben, um dich spielen zu hören. Du darfst sie nicht enttäuschen.«
»Stimmt schon.« Ihre Fingernägel klapperten auf der Bettumrandung. »Trotzdem …«
»Ich bin hier in guten Händen. Du hast doch selbst recherchiert und herausgefunden, dass es niemand Besseren für diesen Eingriff gibt, als diese Klinik und Dr. Norden.«
»Aber vielleicht musst du ja gar nicht operiert werden. Vielleicht ist es wirklich nur eine Reizung, die vorübergeht. Wie die letzten Male auch.«
Tobias legte sich zurück und schob einen Arm unter den Kopf.
»So kann es doch nicht weitergehen, mein Schatz. Du hast selbst gesagt, dass dich diese nervliche Belastung aufreibt. Diese Unsicherheit. Auch deshalb bin ich hier. Und ziehe die Sache jetzt durch! Und du fliegst jetzt nach Paris und gibst heute Abend dein Konzert.«
»Ich weiß nicht.« Natascha setzte ihren Marsch fort. Wie Regen trommelten ihre Absätze auf das Vinyl in Schiffsbodenoptik. Mit normalen statt der Klinikbetten hätte man sich in diesem Zimmer wie zu Hause fühlen können.
Tobias’ Stirn wellte sich wie ein See, über den ein leichter Wind strich. Auch das Lächeln hatte die Brise mitgenommen.
»Du tust gerade so, als ginge es um Leben und Tod. Aber das hier ist nicht wie bei deinem Vater. Du musst endlich aufhören zu denken, dass sich die Geschichte wiederholt.« Etwas sanfter fügte er hinzu. »Für mich ist diese Operation ein Klacks. Aber wenn ich mir vorstelle, ein Konzert vor Hunderte von Menschen zu geben …« Er schnitt eine Grimasse, schüttelte sich. »Dann doch lieber zehn Blinddarmoperationen.«
Natascha zögerte. Sie trat an die Seite ihres Mannes, griff nach seiner Hand.
»Ein Glück, dass du nur einen hast.« Plötzlich war ihre Stimme watteweich.
Tobias sah sie an. Er kannte den Ausdruck in ihren Augen. Wusste, dass nicht mehr viel fehlte.
»Du musst los.« Er zog sie an sich und küsste sie. »Guten Flug.«
Natascha lachte leise an seinen Lippen.
»Du kennst mich gut.« Sie küsste ihn wieder. »Pass auf dich auf! Wenn dir ein Leid geschieht, kaufe ich mir diesen Dr. Norden.«
»Ich werde es ihm ausrichten.«
*
Die Akte seines Patienten in der einen und eine Tasse Kaffee in der anderen Hand bog Dr. Gruber um die Ecke. Und zuckte zurück. In letzter Sekunde gelang es ihm, einen Zusammenstoß mit Christine Lekutat zu verhindern.
Sie erholte sich schneller von dem Schrecken als er.
»Alle Achtung. Sie haben ja Temperament. Dabei haben Sie mich immer an eine Packung Schlaftabletten erinnert.«
Und Sie mich an die Venus von Willendorf!, schoss es Benjamin durch den Kopf. Die 30.000 Jahre alte kleine Steinfigur galt als ältestes Fundstück Österreichs. Mit dem üppigen Busen, den starken Hüften und Schenkeln, dem vorstehenden Bauch und dem ausgeprägten Gesäß hatte sie in der Tat Ähnlichkeit mit Christine Lekutat. Laut ausgesprochen hätte der Assistenzarzt das allerdings nie. Dazu war er einfach zu gut erzogen.
»Tut mir