Lekutat sah ihm nach.
»Ach, ich habe gehört, der Chef hat Sie für die Leitung einer OP eingeteilt«, rief sie über den Flur.
Benjamin schickte einen Blick in den Himmel. Blieb ihm denn heute nichts erspart?
»Stimmt. Darauf muss ich mich noch vorbereiten. Wenn Sie mich bitte entschuldigen …«
Er ging weiter.
Gleich darauf hörte er das Wetzen von Stoff zwischen zwei Oberschenkeln. Dr. Lekutat hatte es sich anders überlegt und folgte ihm. Er verschwand hinter dem Tresen und setzte sich an einen Computer in der Hoffnung, die Chirurgin würde sich abschütteln lassen. Sie erfüllte sich nicht.
»Warum denn so eilig, junger Mann?«
»Wie gesagt, ich muss mich noch vorbereite …«
»Sie wollen im Ernst mit diesen Augen operieren?«
Musste sie so laut schreien? Er war doch nicht schwerhörig. Benjamins Blick flog über die Kollegen. Ein Arzt unterhielt sich mit einer Schwester am Tresen. Der Kollege Weigand war in eine Patientenakte vertieft. Das Telefon klingelte. Pfleger Sascha steckte bis zur Hüfte in einem der Schränke und suchte etwas. Alle waren mit ihren Aufgaben beschäftigt und schienen der Lekutat keine Beachtung zu schenken. Und Lästerschwester war auch keine in Sicht. Dr. Gruber atmete auf.
»Wenn Sie mein Augenflimmern meinen, das ist momentan wieder weg. Außerdem ist es mir gelungen, ein paar Ursachen auszuschließen.«
Christine Lekutat stemmte die gepolsterten Hände in die Hüften.
»Und welche?«
Benjamin zog einen kleinen Block aus der Kitteltasche. Er überflog seine Notizen.
»Hmmm … alle.«
Die Chirurgin zog eine Augenbraue hoch.
»Oh, das würde mir in der Tat auch Sorgen machen.«
»Und was soll ich jetzt tun?« Benjamin fühlte sich nicht nur wie ein Schuljunge beim Ausfragen vor der Klasse. Er sah auch so aus.
»Bevor Sie in Tränen ausbrechen, sollten Sie einen unserer Augenärzte konsultieren. Dr. Caspari kann den Augeninnendruck messen, um grünen Star auszuschließen. Außerdem kann er eine Augenspiegelung vornhmen.« Christine Lekutat sah sich um. »Schwester Astrid? Übernehmen Sie den Counter.«
Benjamin zuckte zusammen. Ausgerechnet eine der Lästerschwestern! Wie hatte er sie nur übersehen können?
»Was? Jetzt gleich?«, fragte er. Ein verzweifelter Versuch, die Lekutat von ihrem Vorhaben abzuhalten. Er scheiterte.
»Natürlich jetzt gleich. Oder wollen Sie abwarten, bis Sie den Patienten vor lauter Panik ins Jenseits geschickt haben?«
Astrid gab sich wenig Mühe, das Prusten zu unterdrücken. Benjamin schoss das Blut in die Wangen.
»Ja, dann …« Er lächelte zu Schwester Astrid hinüber und stand auf. »Vielen Dank schon mal.«
*
»O Fee. Mein Feelein. Ist das wirklich wahr?« Daniel Norden stand in der Mitte seines Büros. Er hielt das Gesicht seiner Frau in Händen und liebkoste es mit den Augen, bedeckte es mit Küssen. »Kannst du dich wirklich wieder erinnern?«
»Besonders an das Chaos auf deinem Schreibtisch zu Hause. Daran, dass du schon vor Monaten ausmisten und für Ordnung sorgen wolltest. Außerden …«
Den Rest des Satzes erstickte er mit einem Kuss.
»Du hast mich überzeugt. Obwohl es mir lieber wäre, wenn du dich an andere Dinge erinnern würdest. An unsere Kreuzfahrt zum Beispiel. Oder an das Wochenendende am Chiemsee …«
»Weißt du, an was ich mich am liebsten erinnere? An die Abende, an denen wir alle zusammen waren. Du, die Kinder und ihre Partner. Lenni und Oskar. Bei uns zu Hause. Bei Danny und Tatjana. Oder bei Enzo.« Fee küsste ihren Mann wieder und schob ihn ein Stück von sich. Ihre Augen hatten ihren alten Glanz zurück. »Was meinst du: Sollten wir heute Abend zur Feier des Tages zu Enzo gehen? Alle zusammen?«
»Eine tolle Idee! Ich trommel die Kinder zusammen.«
Fee nickte.
»Du bist ein Schatz. Dann mache ich mich mal auf den Weg.«
Daniel Norden stand in seinem Büro und sah seiner Frau nach. Das Wunder war geschehen. Sie würde wieder ganz gesund werden.
Noch tanzte dieses Wissen an der Oberfläche. Es würde eine Weile dauern, bis er es verinnerlicht hatte, an das Wunder glauben konnte. Aber eines wusste er schon jetzt: Er konnte den Abend kaum erwarten.
»Komm gut heim.«
Auf halbem Weg blieb Fee stehen.
»Wieso heim?« Ihr Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
Daniels Miene verdunkelte sich.
»Wo willst du hin?«
»In mein Büro. Warum?«
Er schnappte nach Luft.
»Du willst gleich wieder arbeiten?«
Die Hand auf der Klinke drehte sich Fee zu ihrem Mann um.
»Mir geht es gut, Dan. Und die Psychologin hat gesagt, dass Arbeit die beste Medizin für mich ist.«
Diesem besonderen Tonfall, dem Lächeln, das um ihre Lippen spielte, hatte Daniel nichts entgegenzusetzen. Seufzend gab er sich geschlagen.
»Du solltest es langsam angehen lassen.«
»Etwas anderes lässt schon meine Kondition nicht zu.« Felicitas zwinkerte ihm zu und verließ das Büro.
»Sagst du Lammers Bescheid, oder soll ich das für dich übernehmen?«, rief er ihr nach.
Ihr Kopf erschien noch einmal in der Öffnung.
»Das mache ich schon selbst. Das Vergnügen, sein Gesicht zu sehen, will ich mir nicht entgehen lassen.« Ein Handkuss noch, dann war Fee endgültig verschwunden.
Mit einer Mischung aus Stolz und Sorge sah Daniel Norden ihr nach.
»Diese Frau ist einfach unverbesserlich.«
Seine Kitteltasche klingelte. Ein letzter sehnsüchtiger Gedanke an Fee, ehe er das Mobiltelefon aus der Tasche zog.
»Der OP für Herrn Lichte wäre dann so weit«, teilte ihm eine Schwester mit. »Außerdem hat Frau Lichte Bedenken wegen des Eingriffs geäußert.«
»Ich kümmere mich darum. Und sagen Sie bitte Gruber Bescheid. Ich warte im OP auf ihn.«
Er ließ das Mobiltelefon in die Kitteltasche zurückfallen und machte sich auf den Weg zu seinem Patienten.
*
»So, Herr Lichte. Es tut mir wirklich leid, dass Sie so lange warten mussten. Aber jetzt kann es gleich losgehen.« Daniels kühle Finger legten sich um Tobias’ Handgelenk. »Alles bestens.« Er notierte den Wert im Krankenblatt, nahm den Infusionsbeutel vom Ständer und legte ihn auf das Bett. Mit einem Blick versicherte er sich, dass alles zum Aufbruch bereit war. Die Bremse des Bettes klapperte leise, als er sie löste. »Ich habe gehört, dass Ihre Frau Bedenken wegen der Operation hat.«
»Natascha macht mich schon ein bisschen nervös«, gestand Tobias. »Ihr Vater ist bei einem Routineeingriff gestorben.«
Dr. Norden zog eine Augenbraue hoch.
»Was genau ist da passiert?«
»Ein Narkosezwischenfall. Soweit ich das verstanden habe, hat Gernot die Medikamente nicht vertragen und während der Operation einen Herzstillstand erlitten. Den Ärzten ist es zwar gelungen, ihn zurückzuholen. Allerdings war er nicht mehr ansprechbar und ist ein paar Tage später gestorben, ohne wieder aufzuwachen.« Tobias zuckte mit den Schultern. »Dazu muss man allerdings sagen, dass Gernot schon über siebzig war und ein Lebemann, wie er im Buche