Dr. Norden musste die Stimme heben, um die Gespräche, das Schwatzen und Lachen zu übertönen.
Eine unsichtbare Hand legte sich um Benjamins Kehle. Doch Atemnot hin oder her. Er hatte keine Wahl.
»Chef!«, krächzte er und wunderte sich, dass sich Dr. Norden tatsächlich umdrehte.
Er musterte den jungen Assistenzarzt aus schmalen Augen.
»Gruber, da sind Sie ja wieder. Wie geht es Ihnen?«
»Ich … es tut mir leid. Ich habe Mist gebaut. Das hätte nicht passieren dürfen.«
Daniel neigte den Kopf.
»Ich gehe mal davon aus, dass Sie nicht absichtlich umgefallen sind.«
»Das meine ich nicht.« Benjamin rang die Hände. »Die Operation … die Blutung … ich habe keine Ahnung, was ich falsch gemacht habe.«
Daniel legte dem jungen Kollegen die Hand auf den Arm. Sein Lächeln war farblos.
»Sie trifft keine Schuld. Für die Blutung war ein rupturiertes Bauchaortenaneurysma verantwortlich. Wir haben die Aorta unterhalb der Nierenarterien und oberhalb des Risses mit einer Gefäßklammer abgeklemmt und weitere Arterien mit Ballonkathetern abgedichtet.« Es war ein Ritt auf einer Rasierklinge gewesen. Der Schweiß stieg Daniel auf die Stirn, wenn er daran dachte. »Nach Eröffnung des aneurysmatischen Sacks hat der Kollege Weigand den Thrombus entfernt. Anschließend setzten wir eine Aortenprothese ein, die die Ruptur überbrückt.«
»Sie hätten dabei sein sollen, Gruber«, rief Matthias Weigand über die Schulter. »So was erlebt man nicht alle Tage.«
»Zum Glück!«, entfuhr es Daniel. »Leider ist der Blinddarm immer noch dort, wo er war. Ein weiterer Eingriff ist nötig. Zeitnah.«
Dr. Gruber fühlte sich wie in einer Achterbahn. Hier das Hochgefühl darüber, nicht für die Blutung verantwortlich zu sein. Und dort der drohende Abgrund.
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen.
»Was ist eigentlich los mit Ihnen?« Dr. Norden sah seinen Assistenzarzt fragend an. »Irgendwas stimmt doch nicht.«
Eine Lüge wollte sich über Benjamins Lippen mogeln. Gerade noch rechtzeitig biss er sich auf die Unterlippe. Höchste Zeit, das Versteckspiel zu beenden. Mit gesenktem Kopf stand er vor seinem Chef.
»Ich … seit einer Weile habe ich ab und an so ein Flimmern in den Augen. Manchmal ist es so schlimm, dass ich kaum mehr etwas sehen kann. Deswegen war ich auch schon bei Dr. Caspari.«
Daher also das Blinzeln. Die Unsicherheiten. Daniel Norden nickte. Das erklärte natürlich einiges.
»Und? Was hat der Kollege Caspari herausgefunden?«, fragte er und trat ans Waschbecken. Der lang ersehnte Duft nach Orange und Zitrone stieg ihm in die Nase. Der weiche Seifenschaum umschmeichelte seine strapazierte Haut.
»Er vermutet ein Flimmerskotom, die Ursache muss noch abgeklärt werden.« Da war sie wieder, die Hand, die seine Kehle zudrückte. »Dr. Lekutat sieht die Sache allerdings anders. Sie denkt an ein Glaukom.« Das war noch die angenehmere Variante. »Oder einen Gehirntumor.«
Daniel stellte das Wasser ab und griff nach einem Handtuch.
»Sie sind umgeben von Spezialisten. Lassen Sie die Ursache abklären«, sagte er und warf das Handtuch zu der restlichen schmutzigen Wäsche. »Bis Sie Sicherheit haben, ist der Operationssaal tabu für Sie. Haben wir uns verstanden?«
Benjamin Gruber hörte auch all die Vorwürfe, die sich sein Chef in diesem Augenblick verkniff.
»Natürlich.« Er starrte auf den Boden, als hätte er nie Schöneres gesehen.
Dr. Norden verzichtet auf weitere Fragen und wollte sich schon abwenden, als ihm eine Idee in den Sinn kam. Die Lösung für das drängendste seiner Probleme!
»Ach, und bis es eine Diagnose gibt, haben Sie bitte ein Auge auf meine Frau. Dr. Felicitas Norden. Ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben …«
»Herzinfarkt und retrograde Amnesie nach Sturz mit Kopfverletzung«, ließ die Antwort nicht lange auf sich warten.«
Daniel lächelte.
»Vielen Dank für Ihre Anteilnahme. Zum Glück hat meine Frau ihre Erinnerungen wiedergefunden. Pech ist, dass sie schon wieder an ihrem Schreibtisch sitzt.«
»Und ich soll auf sie aufpassen?«, hakte Benjamin mit großen Augen nach. Bis jetzt kannte er Fee nicht persönlich. Nur den Ruf, der ihr vorauseilte. »In der Klinik wird gemunkelt, dass es kaum möglich ist, Ihre Frau von etwas abzuhalten, was sie sich vorgenommen hat.«
Dr. Norden lächelte.
»Betrachten Sie diese Aufgabe als Erfahrung im Umgang mit Frauen.« Er zwinkerte Benjamin Gruber zu und verließ den Operationssaal in dem guten Gefühl, wenigstens eines seiner beiden großen Probleme gelöst zu haben. So einfach würde es mit Tobias Lichte leider nicht werden.
*
»Sehen Sie! So eine Mahlzeit hat auch ihr Gutes.« Dr. Lekutat leckte sich den letzten Rest Curry von den Lippen. Die gebratenen Nudeln mit Gemüse waren aber auch zu lecker gewesen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie noch einen Nachschlag vertragen können.
Leider hatte auch Natascha Lichte ordentlich zugeschlagen und kein Nüdelchen übrig gelassen. Da machte es auch nichts aus, dass der Chef des Weges kam. »So ist die Wartezeit doch wirklich schnell vergangen.« Sie nickte hinüber zu Daniel Norden.
Natascha wandte den Kopf. Im nächsten Atemzug sprang sie vom Stuhl auf und eilte dem Klinikchef entgegen.
»Herr Dr. Norden! Was ist passiert? Warum hat das so lange gedauert?«
Daniel wunderte sich nur kurz, die Frau seines Patienten hier zu sehen.
»Wir haben während der Operation ein Bauchaortenaneurysma bei Ihrem Mann gefunden. Dabei handelt es sich um die Erweiterung einer Schlagader. Es kam zu einer Ruptur, also einem Riss. Wir mussten den geplanten Eingriff abbrechen und uns um die lebensbedrohliche Blutung kümmern.«
Alle Farbe war aus Nataschas Wangen gewichen.
»Wie geht es ihm?«
»Den Umständen entsprechend gut.« Der überstandene Schrecken stand Dr. Norden ins Gesicht geschrieben. So ein Aneurysma im Bauch kam einer Bombe gleich. Das Hauptrisiko der OP bestand durch die massiv bedrohlichen Blutverluste. Erst bei der Rückschau wurde ihm klar, dass zwei Faktoren Tobias das Leben gerettet hatten. Erstens hatte es sich um eine gedeckte Ruptur gehandelt. Die Blutung war in den Bereich hinter dem Bauchfell gelaufen, hatte sich dort selbst zusammengedrückt. Sonst wäre Tobias innerhalb von Minuten verblutet. Aber das musste Natascha nicht unbedingt im Detail wissen. Nicht nach der Vorgeschichte ihres Vaters. »Tobias hat unglaublich viel Glück gehabt, dass er wegen seines Blinddarms ohnehin auf dem OP-Tisch lag«, erklärte er ihr lieber den zweiten glücklichen Umstand. »Wäre das Aneurysma außerhalb der Klinik geplatzt, hätte es schwerlich Rettung für Ihren Mann gegeben.« Er lächelte. »Aber wollten Sie nicht längst in Paris sein und ein Konzert geben?«
»Ich hätte so oder so nicht spielen können. Deshalb habe ich es abgesagt.« Natascha ließ die Spitzen ihres Schals durch die Finger gleiten. Immer und immer wieder. Dabei ließ sie den Klinikchef nicht aus den Augen. »Kann ich Tobias sehen?«
»Sobald er aufgewacht ist.« Sollte Daniel die anstehende zweite Operation erwähnen, oder damit lieber bis später warten?
Natascha lächelte.
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen gegenüber so misstrauisch war.«
Später. Er würde dem Ehepaar die Neuigkeit später unterbreiten.
»Sie hatten Angst. Das ist kein Grund, sich zu entschuldigen.« In diesem Moment hatte Daniel Norden das unbedingte Bedürfnis, sich nach dem Wohlergehen seiner Frau zu erkundigen. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen. Wir sehen uns später noch.« Mit diesen Worten verabschiedete er sich und machte