Patricia Vandenberg

Chefarzt Dr. Norden Box 5 – Arztroman


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      Dr. Gruber überhörte den grimmigen Unterton.

      »Ganz genau. Alles reine Routine.« Er stand am Bett seines Patienten und wartete, bis sich seine Brust ruhig hob und senkte. Hinter ihm öffnete sich die Tür. Benjamin drehte sich zu Natascha um und legte den Zeigefinger auf die Lippen.

      »Er schläft.« Auf Zehenspitzen schlich er sich hinaus.

      Natascha folgte ihm.

      »Schlaf ist die beste Medizin«, erklärte sie.

      Benjamin musterte sie.

      »Dasselbe sollten Sie auch tun. Sie sehen sehr müde aus.«

      »Kein Wunder. Nach DEM Tag.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Aber Sie haben recht. Ich sollte nach Hause fahren und mich ein bisschen ausruhen. Tobias braucht mich und meine Kraft.« Sie verabschiedete sich von dem Assistenzarzt und machte sich auf den Weg. Das Klappern ihrer Absätze wurde leiser und verhallte schließlich ganz.

      Nach einem Blick auf die Uhr beschloss auch Benjamin Gruber, dass es Zeit wurde, die Klinik zu verlassen. Genug erlebt für heute. Er steckte die Hände in die Kitteltaschen und ging davon. Die Schritte, die auf dem Flur verhallten, verrieten ihn.

      Darauf hatte Tobias nur gewartet. Es kostete ihn alle Überwindung, sich aufzusetzen. Obwohl er das Gefühl hatte, mindestens drei Messer im Bauch zu haben, kämpfte er sich hoch. Schweiß glänzte auf seiner Stirn, sein Atem ging stoßweise. Doch all das hielt ihn nicht davon ab, die Bettdecke zurückzuschlagen und die Beine über die Kante zu heben.

      *

      Fee Norden lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie legte die Hände an die Schläfen und stöhnte leise. Offenbar hatte sie ihre Leistungsfähigkeit überschätzt. Oder die Schwere ihrer Verletzung unterschätzt. Je nachdem, von welchem Blickwinkel aus man es betrachtete.

      Das Ergebnis war dasselbe. In ihrem Kopf dröhnte ein Presslufthammer und wollte einfach nicht damit aufhören. Sie öffnete die Augen wieder. Ihr Blick fiel durch das Fenster hinaus in die Dämmerung. Blaue Stunde. Ein schöner Name für die besondere Färbung des Himmels während der Zeitspanne nach Sonnenuntergang und vor Eintritt der nächtlichen Dunkelheit. Leider nicht ganz richtig. Violette Stunde wäre an diesem Abend treffender gewesen. Der Himmel hatte sich in alle Nuancen von Lila getaucht. Lila, der letzte Versuch. Lila, die Farbe des Feminismus. Oder die des 26. März, Tag der Epilepsie, im Englischen auch ›Purple Day‹ genannt.

      Fee war so beschäftigt mit ihren Betrachtungen, dass sie nicht hörte, wie sich die Tür öffnete.

      »Alles in Ordnung?«

      Erst die besorgte Stimme ihres Mannes ließ sie zurückkehren.

      »Dan!« Ein Leuchten huschte über ihr Gesicht. »Ich habe gerade darüber nachgedacht, dass die ­Bezeichnung ›blaue Stunde‹ falsch ist.«

      Er atmete auf, trat neben sie, stützte sich auf die Armlehnen und küsste sie.

      »An wen müssen wir uns wenden, um uns zu beschweren?«

      Sie lachte an seinen Lippen.

      »Ich werde es herausfinden.«

      »Weißt du was: Das glaube ich dir sogar.« Noch ein Kuss. Dann setzte sich Daniel auf die Schreibtischkante.

      Sie musterte ihn aus schmalen Augen.

      »Im Übrigen bin ich böse mit dir.«

      »Ich weiß, und ich nehme alle Schuld auf mich.« Wie um sich vor einem drohenden Angriff zu schützen, hob er die Hände. »Ich habe Dr. Gruber nur deshalb gebeten, ein Auge auf dich zu werf …«

      »Darum geht es nicht«, unterbrach Fee ihn.

      »Nicht?« Daniel legte den Kopf schief.

      »Du hast dich nicht um meinen Keksvorrat gekümmert. Jetzt habe ich Kopfschmerzen, weil ich unterzuckert bin.«

      Um ein Haar hätte er laut aufgelacht.

      »Wie konnte ich nur?« Er schüttelte den Kopf. Seine Mundwinkel zogen sich nach unten. »Ich fürchte, für diese Vergesslichkeit ist der Kollege Lammers verantwortlich.« Was für eine glänzende Überleitung!

      Felicitas zog eine Augenbraue hoch.

      »Was ist denn jetzt schon wieder?«

      »Ich hatte heute ein denkwürdiges Gespräch mit ihm.«

      »Lass mich raten! Er hat sich über mich beschwert.« Fee faltete die Hände auf dem Bauch. Ausgeschlossen, in diesem Augenblick den Body Scan zur Beruhigung anzuwenden. So blieb ihr nur eine ausgefeilte Atemtechnik, um ihren Puls in Zaum zu halten. »Was hat er gesagt?«

      Daniel wusste, dass er behutsam vorgehen musste.

      »Er behauptet, du würdest ihm ständig ins Handwerk pfuschen, ihm Vorschriften machen und nicht loyal ihm gegenüber sein.«

      Einen Moment lang war nur das leise Rauschen des Computers zu hören. Rollläden, die geschlossen wurden. Ein Martinshorn in weiter Ferne.

      Daniel hielt die Luft an.

      Doch was tat Fee? Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte.

      Er atmete weiter.

      »Das hat er wirklich gesagt?«, japste Felicitas endlich. »Und du hast ihm geglaubt?«

      »Ich dachte mir schon, dass er die Dinge wieder mal so dreht, dass sie in sein Bild der Welt passen.«

      »Das hast du schön gesagt.« Fee wurde ernst. »Fakt ist, dass ein Kind während einer OP um ein Haar verblutet wäre, weil er einen wichtigen Gerinnungstest nicht durchgeführt hat. Und zwar aus Kostengründen.«

      Daniels Nackenhaare sträubten sich.

      »Ich werde sofort mit Fuchs sprechen.« Er zückte sein Handy und machte eine Notiz ein seinem Kalender.

      »Er hat eigenmächtig meine Fortbildungen abgesagt, Medikamente zurückgeschickt. Krönung war allerdings, dass er sich mein Büro unter den Nagel reißen wollte.« Dieser Aufregung war die schönste Atemübung nicht gewachsen. »Die Handwerker wollten es schon vermessen.«

      Das war ja noch schlimmer, als Daniel vermutet hatte. Und trotzdem … Er rutschte von der Tischkante, verschränkte die Hände auf dem Rücken und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen.

      »Das ist wirklich haarsträubend«, murmelte er.

      Fees Augen wurden schmal.

      »Das klingt nach einem Aber.«

      Ihr Mann blieb stehen und suchte ihren Blick.

      »Feelein, dir muss ich doch nicht erklären, dass wir jeden guten Arzt brauchen«, warb er leidenschaftlich um ihr Verständnis. »Und Lammers ist mehr als das. Das weißt du so gut wie ich. Er ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Und wie jedes Genie ist er eben auch eine Diva.« Er seufzte tief. »Wir können es uns nicht leisten, ihn zu verlieren. So gern ich ihn auch auf der Stelle feuern würde.«

      Fees Augen sprühten Funken.

      »Du findest es richtig, dass er ständig meine Position in Frage stellt? Mich tagtäglich in irrwitzige Machtkämpfe verwickelt?« Sie hielt es nicht länger auf ihrem Stuhl aus und sprang auf. »Wie groß könnte sein Genie sein, wenn er seine Kraft ausnahmsweise einmal auf seine Arbeit und nicht an mich verschwenden würde?«

      »Ganz deiner Meinung. Aber was soll ich tun? Sag’ du es mir!«

      Sie standen sich gegenüber und starrten sich an. Es war Daniel, der schließlich die Hände auf die Schultern seiner Frau legte.

      »Ich mache mir solche Sorgen um dich. Was, wenn diese ständige Belastung, dieser Kleinkrieg mit Lammers schuld an deinem Herzinfarkt ist?«

      »Und deswegen soll ich meinen Platz räumen?«, fragte Felicitas ungläubig. »Ist es das, was du hören willst?«

      Langsam schüttelte Daniel Norden den Kopf. Er