blickte in ein Gesicht, das sie ernst musterte. Es war der Drachenwächter, der sie angesprochen hatte. „Jawohl!“
„Männer!“, schrie der Zwergerich. „Wir kehren um! Los!“
„Bist du noch gesund, Florlep?“, rief ein kräftiger Mann weiter vorne. Und ein anderer: „Warum sollten wir umkehren, Florlep?“
„Eine Maus folgt uns nicht mehr, Sir! Alle Zwerge umdrehen!“
Ja, und was nun passierte, kann man sich ja denken. Alle Bürger machten auf der Stelle kehrt, um die vermisste Maus zu finden. Sie mussten nicht lange laufen – schon bald sahen sie sie. Die Maus lag mitten auf dem Weg, ihre vier Pfoten von sich gestreckt. In diesem Moment sagte niemand mehr etwas. Selbst die Kräftigen wagten es nicht, die Stille zu durchbrechen. Um die bewegungslose Maus herum saßen, lagen und standen Zwergenkinder.
„Sie ist tot!“, rief eines verzweifelt. „Sie ist einfach zusammengebrochen! Ich hab schon vorher gemerkt, dass sie nicht mehr laufen kann, aber ich dachte, das ist normal. Und jetzt ist sie tot! Ich bin schuld!“
Florlep setzte sich neben das kleine Zwergenkind. „Dieses Unglück konntest du nicht vorhersehen“, versuchte er es zu beruhigen. „Du kannst nichts dafür. Vielleicht ist sie ja auch gar nicht tot, sondern nur sehr erschöpft.“ Doch er irrte sich – leider.
Mit ernster Miene trugen die Männer die Maus an den Wegesrand.
„Lasst uns schnell weitergehen! Wir haben keine Zeit zu verlieren“, sagte einer.
Jetzt hatten sie also für den Rest des weiten Weges nur noch eine einzige Maus. Der kräftigste aller Zwerge bestand jedoch darauf, diese Maus erst einmal nicht zu reiten. Alle waren einverstanden, sie wollten nicht noch die letzte Maus verlieren. Der alte Jusche vom ehemaligen Obst- und Gemüsehandel weinte ein paar bittere Tränen. Die tote Maus war seine Hausmaus gewesen.
Von dem Moment an wurde der Marsch um vieles schwerer. Die kleinen Zwergenkinder klagten teils über verstauchte Füße oder Müdigkeit. Sie kamen viel langsamer vorwärts. Eine Stunde war es nun her, dass Lilla ihre Drachenwache beendet hatte. Die Nacht war mittlerweile stockfinster geworden, denn der Mond, der eigentlich die Pflicht gehabt hätte zu leuchten, hatte sich hinter einer großen Wolkenwand verborgen. Die Einwohner Sogittas setzten ihren Weg in dieser Nacht mit nicht mehr Licht als allein dem einer schwachen Fackel fort. Lilla malte sich aus, wie es wohl enden würde, wenn die Fackel erlosch. Nein! Sie wollte es sich lieber nicht vorstellen. Lieber nicht! Sie wollte lieber an das Nachbardorf denken. Dort würden sie nach einem Unterschlupf fragen und hoffentlich würde es für sie die Möglichkeit geben, sich bei Rofon und seinen Eltern mit einzuquartieren. Das Mädchen wollte auf keinen Fall in ein Heim. Sie hatte Angst, dass man sie gegen ihren Willen in eines stecken würde.
Nach einer Zeit, die Lilla schrecklich lang vorkam, durften einige Kinder wieder auf der Maus reiten. Der andere Teil kam beim nächsten Wechsel an die Reihe. Lilla musste auf den Mäuserücken verzichten, während Rofon den Platz vor allen anderen am Mäusekopf einnahm. Lilla ging neben den kräftigen Männern und den anderen Kindern her. Ihr Magen knurrte! Aber sie wollte nicht fragen, wann es etwas zu essen geben würde, sie wollte erwachsen, groß und stark sein! Nicht quengelig!
Es fiel Lilla schwer, so erwachsen zu sein, doch noch schwerer fiel es ihr daran zu denken, dass sie ganz alleine war. Die Mutter zurückgelassen in Sogitta und der Vater entführt von Drachen. Wie sehr sie sich jetzt nach ihrem Zuhause sehnte! Sie würde vielleicht sogar freiwillig spülen!
Die Nacht kroch elendig langsam vorbei. Lillas Füße brannten, und auch die anderen, Kinder wie Erwachsene, quälten sich mit jedem Schritt, den sie zurücklegen mussten. Zum Glück war die Zeit des Mauswechsels bald gekommen. Aber Rofon würde sich dann den gleichen Qualen aussetzten müssen, welche Lilla endlich hinter sich gebracht hätte.
Neben ihr lief Tolla, die Tochter des Bürgermeisters. Sie war ein Jahr älter als Lilla. Tolla war auch schon sehr erwachsen. Nicht nur, weil sie schon seit einem Jahr in die Schule ging, nein, auch weil sie mit den kräftigen Männern mitgegangen war. Den ganzen Weg! Sie war noch nicht geritten! Aber Lilla konnte sie dennoch nicht leiden. Sie wollte bloß vor den Kleineren angeben!
„Na, Kleine“, sagte sie plötzlich zu Lilla.
Diese erwiderte nichts darauf. Mazzo hatte ihr immer gesagt: „Wenn jemand etwas Falsches sagt, ohne zu wissen, dass es falsch ist, musst du diskutieren. Wenn jemand dagegen absichtlich falsche Behauptungen macht, so ignoriere ihn!“ Lilla hatte keine Lust sich mit Tolla zu unterhalten. Hinter sich hörte sie, wie Tolla fragte, ob sie denn froh sei, endlich wieder reiten zu dürfen. Lilla ärgerte sich! Trotzdem nahm sie sich vor, nicht mehr auf Tolla zu achten.
Das war leicht, denn in dem Moment kündigte der Kräftigste einen Wechsel an. Lilla fiel ein Stein vom Herzen. Endlich durfte sie sich ausruhen! Schnell lief sie zu der Maus, um noch einen guten Platz auf ihrem Rücken zu ergattern. Doch sie war die Letzte, die aufsteigen durfte! Der Mäusehintern war wirklich der unbequemste Platz auf einer Maus. Kaum saß Lilla, ging die Maus schon weiter. Lilla fragte sich, ob sie eher verhungern oder von der Maus herunterfallen würde.
Zuerst einmal aber schlief sie ein. Und fiel in einen ganz tiefen Schlaf. Sie träumte, dass hinter ihrem Rücken plötzlich Wegmonster auftauchten und sie wütend zerkratzten, verprügelten und schließlich fraßen!
Lilla schaukelte wild auf dem Hintern der Maus hin und her. Sie schwitzte im Schlaf. Im Magen des Monsters schrie Lilla wie wild herum, sie kratzte, biss und schlug verzweifelt um sich.
Plötzlich spürte sie einen Ruck! Es war, als würde sie fliegen. Doch schon landete sie wieder. Auf dem Boden! Lilla schlug die Augen auf. Ja! Sie lag wirklich auf dem Boden! Vor sich sah sie die Maus laufen und hinter sich spürte sie gähnende, unheimliche Leere! Ihre Kleider waren verschwitzt.
Plötzlich meinte sie, etwas zu hören. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Mit angsterfülltem Blick sah sie verzweifelt zu, wie die Maus sich immer weiter entfernte! Hinter ihr schienen die Monster immer näher zu kommen! Näher und näher und NÄHER!
„AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAh!“
Lillas Schrei verdampfte wie Nebel im Nachthimmel. Sie zitterte an allen Gliedern, sie atmete ruckartig wie eine Dampfmaschine und ihr Herz veranstaltete einen Sprintwettbewerb! Aber nicht nur ihr Herz. Auf einmal konnte sich Lilla wieder bewegen. Sie rannte schneller als jemals zuvor! Sie schrie lauter als jemals zuvor und jagte den Langen Weg entlang. Es war schrecklich! Die rabenschwarze Nacht nahm ihr den Atem. Sie war der einzig leuchtende Fleck in der Dunkelheit. Sie rannte und rannte und rannte! Immer und immer schneller! Bis sie schließlich nach einer Wegbiegung die Maus wieder erblickte. Doch noch war diese sehr weit entfernt. Lilla rannte die letzten Meter in Rekordzeit, wobei ihr Hals schmerzte. Sie hatte Angst, bei dem nächsten Meter, den sie laufen musste, in sich zusammenzubrechen. Lilla spürte ihre Beine kaum! Fast war sie angekommen. Es waren nur noch ein paar Schritte, ein paar schmerzhafte Schritte, die das Mädchen zurücklegte, bevor sie, so in Fahrt, wie Lilla gerade war, sich mit ganzer Kraft vom Boden abstieß und auf den Mäuserücken sprang. Vor ihr fragte jemand: „Wo warst du?“ Doch Lilla hörte es nicht mehr. Sofort schlief sie erschöpft ein.
Zur gleichen Zeit kämpfte Rofon damit, beim Laufen nicht schlappzumachen. Er hatte von alledem, was mit Lilla geschehen war, nicht das Geringste mitbekommen. Ihn quälten seine schmerzenden Füße und sein riesiger Hunger. Trotz allem war er stolz auf sich, denn er hatte die Führer dazu überreden können, bei Anbruch des Tages eine Essenspause einzulegen. Und diese zwei Stunden bis zum Sonnenaufgang würde er schon noch durchhalten. Denn zwei Stunden waren nur ein Sekündchen verglichen mit dem, was schon geschehen war und noch kommen würde! Rofon freute sich! Rofon freute sich, weil der Tag nahte.
Dazu muss man wissen, dass ihn ohnehin schon immer eine riesige Angst vor der Dunkelheit plagte. Vor einigen Jahren, als er mit Lilla im Kindergarten übernachten durfte, hatte er sämtliche Kinder und Erzieher nachts geweckt. Alle hatten ihn ausgelacht, bis auf Lilla. Rofons Eltern mussten mitten in der Nacht kommen, um ihren Sohn abzuholen. Er hatte sich damals in Grund und Boden geschämt! So klein hatte er sich gefühlt.