Lea Dienhart

Sogitta


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Die Einwohner Sogittas wurden zunehmend verzweifelter. Mit so einem Unwetter hatte niemand gerechnet, obwohl alle Zwerge schon im Kindergarten lernten, dass der Lange Weg magisch war.

      In Sogitta und Fulmen, den beiden Dörfern, die an den Langen Weg grenzten, war das Wetter eigentlich sonst recht normal: Mal regnete es ein bisschen, mal schien die Sonne. Auf diesem Weg war es jedoch entweder so heiß wie in einer Wüste oder stürmisch. Das Wetter spielte dort verrückt. Man erzählte sich manchmal sogar, dass ein Magnet auf dem Weg diejenigen festhielt, die sich dorthin wagten.

      Inzwischen waren Stunden verstrichen. Immer noch war keine Spur von der Sonne zu sehen. Nicht im Geringsten. Weder Wind noch Regen machte den Anschein, jemals aufhören zu wollen. Hoffentlich würde das nicht ewig so weitergehen! Lilla war dem Erfrieren nahe, aber sie hielt durch.

      Wieder brach ein Baum weiter hinten in sich zusammen. Lilla meinte, sein Wehklagen hören zu können. Sie zählte die Sekunden, die Minuten. Sie zählte die Bäume, welche sie schreien hörte, und die Regentropfen, die wie Geschosse auf sie herunter sausten. Doch sie hatte weniger Angst als zu Beginn. Lilla spürte, dass das Team der Bürgerinnen und Bürger Sogittas stark war, das alle gemeinsam losgehen und gemeinsam ankommen würden, auch wenn es verdammt schwer war.

      „3989, 3990, 3991, 3992“, zählte Lilla, „3993, 3994, 3995.“

      Ein anderer versuchte denselben Trick, um sich abzulenken. Rofon! Am anderen Ende der Truppe stand er und zählte: „3996, 3997, 3998, 3999, 4000!“ Dann hörte er auf und verfolgte stattdessen, wie viele Vögel schrien.

      Lilla zählte weiter. Sie war inzwischen bei 4026. Die Situation war wirklich sehr brenzlig. Man konnte sie vergleichen mit … Nein! Man konnte sie mit rein gar nichts vergleichen. Bei so etwas müsste man schon dabei sein, aber das will ja keiner, oder?

      „4048, 4049 …“

      „Maamaa!“ Das war ein kleiner Junge. „Maaamaaa, ich friiiere doch soo!“ Man hörte keine Antwort, bloß ein zwergisches Winseln.

      Es war stockdunkel geworden. Und wieder hell und wieder dunkel. Ein Tag war vorüber. Fast keiner wusste mehr, was vorging, als es plötzlich ruhiger wurde. Es dauerte ein wenig, bis alle es begriffen hatten: Es hatte aufgehört zu donnern und zu blitzen! Auch der Regen wurde weniger, immer und immer weniger. Nach dem letzten Tropfen, der auf den Boden plumpste, verschwand die Stille so schnell, wie sie gekommen war. Alle stoben auseinander, sie kreischten und weinten, aber diesmal vor Freude! Sie feierten ein Fest, wie es noch nie eines gegeben hatte, sie tanzten und schlugen Räder. Eltern fielen ihren Kindern in die Arme. Enkelkinder ihren Großeltern! Es war, als hätte es nie ein Unwetter gegeben.

      Währenddessen saß abseits von allen anderen ein kleines Zwergenmädchen auf einem spitzen Stein und weinte. Niemand hatte es bislang bemerkt. Es war das arme kleine Ding, das vor einigen Jahren seine Eltern am Fluss verloren hatte. Ihre Eltern und ihr Bruder Ciolt waren mit dem Boot hinausgesegelt, um zu fischen, doch sie kamen nie wieder zurück. Seitdem war das Mädchen alleine. Lange Zeit lebte sie auf der Straße, stahl Essen, um seinen Hunger zu stillen, und hatte zum Anziehen nicht mehr als ein altes Laken der Mutter.

      Vor zwei Jahren dann hatte die gute alte Oma Sibba Soppel das Zwergenmädchen bei sich aufgenommen. Vom ersten Tag an waren die beiden unzertrennlich gewesen. Sie gingen zusammen zum Spielplatz, einkaufen und in den Wald. Nur zum See wollte das Mädchen nie. Oma Sibba hatte ihm sogar einen Namen gegeben, einen ganz hübschen Zwergennamen. Seinen eigentlichen Namen wollte das Zwergenmädchen nämlich geheim halten. Sibba gab ihm also den Namen Cyta.

      Jetzt saß Cyta auf dem spitzen Stein und weinte. Sie war ein sehr stilles Zwergenkind, aber sie war äußerst zäh und immer heiter. Was sie bloß hatte?

      Die Festgemeinschaft bekam von der weinenden Cyta nichts mit. Sie feierte immer noch und war schon ein Stück weitergegangen. Cyta ihrerseits bemerkte ebenfalls nichts von den Feiernden. Sie saß bloß da und weinte. Jetzt stand sie endlich auf. Aber wo wollte sie denn hin? Anstatt den anderen zu folgen, lief sie ein bisschen zurück und kniete sich dann nieder, denn genau an dieser Stelle lag jemand. Wer da vor ihr lag, war Oma Sibba! Cyta streichelte ihr mit ihrer feuchten Hand vorsichtig über das Gesicht, während sie mit der anderen eine Blume fest umklammerte – wohl die einzige Blume, die noch stehen geblieben war. Cyta legte sie auf Oma Sibba. Sie war tot! Oma Sibba war tot! Sie hatte das Unwetter nicht überlebt.

       Cyta stand langsam wieder auf und folgte der feiernden Truppe. Bedächtig ging sie vor zum Bürgermeister. Die vielen lachenden Gesichter sangen fröhlich: „Lalala, das Unwetter ist vorbei, hurra! Lalala, ja, das Unwetter ist weg, weg, weg!“ Dazu tanzen sie und drehten sich im Kreis. Alle waren glücklich, bis auf Cyta.

      Mit ihrer kleinen Hand tippte sie dem Bürgermeister auf die Schulter. Der Bürgermeister schaute zu ihr herab. Er konnte das kleine Mädchen nicht ausstehen. „Warum weinst du? Geh gefälligst weiter und tanze wie die anderen!“

      Cyta blickte ihn weiter an. Keine Wimper zuckte. „Sibba ist tot“, sagte sie mit fester, sicherer Stimme. Sie sagte es, als wäre es das Normalste auf der Welt, doch man sah ihr die Verzweiflung an.

      „Mach keine Scherze, sondern freu dich!“

      „Das ist kein Scherz“, sagte Cyta ernst. Sie stand steif vor dem Bürgermeister und wartete.

      „Kein Scherz sagst du, Kleine? Warte kurz hier. Ich hole drei Kräftige! Wehe, du veräppelst mich!“ Mit diesen Worten entfernte sich der Bürgermeister und kam kurze Zeit darauf mit den Kräftigen zurück. Die meisten Feiernden, auch Lilla und Rofon, hörten auf zu singen und springen.

      „Was ist hier los?“ Ein Getuschel ging durch die Reihen. Cyta merkte es nicht, oder vielleicht wollte sie es auch nicht merken. Trübsinnig ging sie voran, hinter sich den Bürgermeister und die Kräftigen. An der Stelle, an der Sibba lag, blieb sie stehen. Nun verging selbst dem Bürgermeister die gute Laune. Er drehte sich um und sagte mit lauter Stimme: „Sibba Soppel ist gestorben!“

      Sogittas Bürger und Bürgerinnen schwiegen.

      „Wir werden einen Trauertag einlegen“, erklärte der Bürgermeister, „Sibba Soppel war eine unglaublich hilfsbereite alte Dame, wie ihr bestimmt alle wisst. Und ich denke, es ist das Beste, wenn wir sie alle zusammen verabschieden.“ Mit diesen Worten sprach er Cyta zum ersten Mal aus der Seele.

      Die Feiernden, die eben noch lustig das Tanzbein geschwungen hatten, halfen nun dabei, ein großes Loch in die Erde zu buddeln. Lilla, Rofon und ein paar andere Kinder standen bei Cyta und versuchten sie zu trösten. Alle dachten darüber nach, bei wem Cyta nun leben sollte, jetzt, wo Oma Sibba gestorben war. Vielleicht würde sie in ein Kinderheim kommen. Es gab eines in Sogitta, in dem jedoch keine Kinder hausten. Es war bloß ein altes Haus in einer Dorfecke, die als sehr gruselig galt. Gleich nebenan war ein Friedhof, und die vereinzelten Bäume, welche hier und da wuchsen, hatten selbst im schönsten Sommer kaum noch Blätter an den Ästen. Nein! Ins kalte, verlotterte Kinderheim durften sie Cyta nicht stecken. Bestimmt würde sich noch eine Lösung finden.

      Während die Kinder sich um Cytas Zukunft Gedanken machten, buddelten die Kräftigen immer noch. Es dauerte weitere zwei Stunden, bis das Loch tief und breit genug war. Bald war die Nacht, die eben noch über das gesamte Zwergenreich geherrscht hatte, vorbei. Die Sonne zeigte langsam ihre ersten Strahlen. Doch die Stimmung unter den Zwergen war nicht so fröhlich, wie es sich für den ersten Tag nach einem Unwetter gehörte. Alle trauerten um Sibba.

      „Weine nicht! Die Welt steckt voller Überraschungen. Es gibt schöne und weniger schöne. Bitte bleibe lustig und verspielt! Ich mag es nicht, dich so traurig zu sehen. Ich bin doch hier! Hier! Hörst du mich denn nicht?“

      Was war denn das? Cyta meinte, Sibbas Stimme gehört zu haben, aber wie sollte das gehen? Sibba war doch tot! Oder etwa nicht ...

      „Ich bin tot, Cyta. Aber nicht für dich! Ich bin umgezogen. Ich wohne in deinem Herzen.“

      Cyta verstand. „Aber wie kann ich dich sehen?“, dachte sie.

      „Cyta, meine Große. Du wirst mich sehen, wann du willst,