edler und guter Mensch, und deshalb wurde er von den Handlangern des Zaren umgebracht.
Lenin spielte auch eine Rolle im obligatorischen Russischunterricht. Das Schulbuch brachte uns dieses Gedicht nahe:
Wenn die Sonne aufgeht
und ins Klassenzimmer schaut,
erstrahlt hell
ein Porträt an der Wand.
Wie zum Gruß
für einen schönen Tag
schaut mich Iljitsch
wie leibhaftig an.
Majakowskijs revolutionäre Gedichte lernte ich auswendig. Ich weiß noch, wie ich einmal vor der ganzen Klasse eins aufsagen mußte: »Das Individuum ist nichts, das Individuum ist nichtig. Die Partei ist alles«, so oder ähnlich lautete der Text. Es hing einiges davon ab, es besonders gut vorzutragen, denn so konnte ich gerade noch meine Note für das bevorstehende Zeugnis verbessern. Aus demselben Grund sang ich brav die Internationale im Gesangsunterricht.
Mit zwölf Jahren war ich immer noch formbar. Ja, mein altes Schulheft aus jener Zeit läßt tief blicken, was meinen damaligen Opportunismus anbelangt. Für den 30. April 1975 mußte zum Beispiel eine Hausaufgabe zum Thema »Der 1. Mai in K.I. Gałczynskis Gedicht ›Ein Marsch durch die Straßen der Welt‹ « geschrieben werden. Wir Schüler sollten anhand von Versen aus dem Gedicht die jeweiligen Maifeierlichkeiten in den sozialistischen bzw. kapitalistischen Ländern miteinander vergleichen. Ich erfüllte die Aufgabe vorbildlich:
IN SOZIALISTISCHEN LÄNDERN
Golden strahlt das Rot im Licht der Sonne;
Fahnen flattern auf den Straßen und auf Brücken;
die Parade schreitet voran und mit ihr – der Frühling.
Die Parade ist glanzvoll und feierlich;
Genossen aus allen Berufen sind gekommen;
alle feiern sie den großen Tag.
IN KAPITALISTISCHEN LÄNDERN
So jedoch schreitet die Welt einem neuen Zeitalter entgegen. Jahr für Jahr wächst die Bewegung. Wie an einem Lagerfeuer wärmen sich die Unterdrückten die Hände an der roten Fahne.
In den kapitalistischen Ländern sind die Feiern verboten. Demonstrationen werden von Polizei und Armee aufgelöst. Am 1. Mai kämpfen wir für Gleichheit und Brüderlichkeit.
In den Schulpausen beteiligten wir uns an »Friedenskampagnen«. Man konnte spezielle Auszeichnungen und bessere Noten bekommen, wenn man mithalf, Plakate für das Schwarze Brett der Schule zu machen. Darauf waren dann Vietnamesen mit großen Strohhüten zu sehen, auf die amerikanische Bomben herabregneten, oder vielleicht auch nur amerikanische Bomben: dicke, bedrohliche schwarze Dinger, die mit einem großen roten X durchgestrichen und einem »Nein!« überschrieben waren. Andere Plakate zeigten Kinder aus friedlichen sozialistischen Ländern Hand in Hand oder beim Gruppentanz, über ihren Köpfen eine weiße Taube.
Die jährlichen Schulwahlen waren ein weiteres wichtiges Ereignis. Die Mitglieder des Klassenrats, unser »Schülerselbstverwaltungskomitee«, wurden durch angeblich freie Wahlen bestimmt. Die Schulwahlen, so erzählte man uns, wären nur ein kleines Beispiel für die Funktionsweise der sozialistischen Demokratie – was auch tatsächlich zutraf. Es gab keine Wahlwerbung, keine Wahlreden, keine Versprechungen (nicht einmal leere), sich zum Beispiel um das miese Essen in der Schule zu kümmern, und auch kein Gremium, das für die Aufstellung der Kandidaten zuständig gewesen wäre. Irgendwie prangte an der Spitze der Wahlliste immer der Name Jacek W., der wohl unbeliebteste Junge der ganzen Schule. Jacek W. war ein typischer Streber, der für gewöhnlich mit einer roten Krawatte angab und bei Versammlungen das Wort ergriff, um linientreue Sprüche nachzuplappern. Wir mochten ihn alle nicht; niemand hat jemals zu erkennen gegeben, daß er für ihn gestimmt hätte, und doch gewann dieser Jacek immer wieder. Es war wie ein Ritual, das wir über uns ergehen ließen, so wie auch die Parlamentswahlen für unsere Eltern eine rituelle Veranstaltung mit vorab bekanntem Ausgang waren.
Trotz der unübersehbaren Heuchelei wurden alle patriotischen Veranstaltungen – Wahlen, Versammlungen, Paraden – mit dem Ernst einer religiösen Zeremonie begangen; und nach jedem solchen Ereignis mußte irgendein armer Teufel nachsitzen und das Ganze in unserer Schulchronik festhalten. Die Chronik meiner Grundschule (ich konnte mir die dicken Kunstlederbände vor kurzem einmal anschauen) fängt mit Zeitungsausschnitten an, die über die Schuleröffnung im September 1967 berichten. Das Band wurde feierlich zerschnitten vom Genossen W. Soporowski, dem ersten Sekretär des Stadtkomitees von Bydgoszcz, und dem Genossen T. Filipowicz, dem Direktor der Propagandaabteilung des Provinzkomitees der Kommunistischen Partei. Kaum einen Monat später, als die Straßenarbeiten vor dem Gebäude noch nicht einmal abgeschlossen waren, feierte die Schule schon den fünfzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution. Unter einem roten Stern, einem Porträt von Lenin und einer Zeichnung von zwei Gewehren hatte jemand einen Text eingetragen, der so unbeholfen ist, daß man dem Verfasser wohl Absicht unterstellen muß.
Vor fünfzig Jahren triumphierte die Große Oktoberrevolution. Ihr Sieg brachte vielen Ländern die Freiheit. Leider wollte die reaktionäre Regierung Polens nicht zulassen, daß auch unser Vaterland befreit würde. Erst nach den schlimmen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs wurde unser Vaterland von der Sowjetunion aus der Niederlage und Armut gerettet. Seit dreiundzwanzig Jahren sind wir frei; wir atmen die Luft der Freiheit, und dies verdanken wir unseren Freunden aus dem Osten.
Wie die Kirche hatte auch die Kommunistische Partei ihren offiziellen Kalender mit Höhepunkten wie dem Jahrestag der Revolution, dem Tag der Polnischen Volksarmee, dem 1. Mai, dem Tag des Sieges, dem Internationalen Frauentag, dem Tag der Miliz und der Staatssicherheit usw. Zudem wurden in der Schule – angeblich auf freiwilliger Basis – besondere Festveranstaltungen organisiert. So feierten wir zum Beispiel das vierzigjährige Jubiläum der Gesellschaft für Polnisch-Sowjetische Freundschaft (die Chronik verzeichnet unter den Anwesenden keinen Geringeren als den Direktor vom Sowjetischen Haus der Kultur in Gdańsk), das Lenin-Jahr, fünfzig Jahre Sowjetunion, vierzig Jahre Internationale Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg und, aus welchem Grund auch immer, den zweiundzwanzigsten Jahrestag der Gründung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei. Jedes dieser Ereignisse gipfelte in einer großen Versammlung. Wir organisierten auch ein Festival für russische Lieder, und unsere Pioniere erhielten ein Fähnchen vom Veteranenverband. Wir sandten Grüße an den Genossen Wojciech Jaruzelski, der damals erst ein bescheidener Verteidigungsminister war, um ihm zu seiner Beförderung zum Drei-Sterne-General zu gratulieren. »Der 25. Kongreß der KPdSU hat auf unsere Schule einen großen Eindruck gemacht«, vermeldet die Chronik. »Jede Klasse hat Schaukästen geschmückt, und die Selbstverwaltung der Schule hat der sowjetischen Botschaft ein Telegramm geschickt. Junge Pioniere haben vor dem Denkmal für die heroische Sowjetarmee Blumen niedergelegt und eine Ehrenwache gehalten.« Für eine andere Versammlung fertigten wir ein großes Transparent an, das an die Wand der Sporthalle gehängt wurde: »Das Parteiprogramm ist unser Programm.«
Einmal schickten wir den Kindern in Vietnam 1379 Schulhefte. Der Begleitbrief lautete:
Liebe vietnamesische Brüder,
wir, die Kinder von Grundschule Nr. 20 in Bydgoszcz ... wünschen Euch den Sieg über die amerikanischen Aggressoren, die Euer Land und Euer Volk zerstören. Euer Kampf ist unser Kampf, und deshalb wird er zum Sieg führen ... Wir möchten, daß die Sonne der Freiheit über Eurem Land aufgeht und Eure Gesichter strahlen vor Glück. Wir wünschen allen Kindern der Erde ein so friedliches und glückliches Leben, wie wir es in Polen haben.
Aus einem anderen Anlaß verabschiedeten wir eine spontane Resolution.
Wir, die Kinder von Grundschule Nr. 20 in Bydgoszcz, erheben gemeinsam unsere Stimmen gegen die Neutronenbombe. Wir wollen lernen und arbeiten und unserem Land dienen. Wir wissen, daß wir ohne Frieden nichts erreichen können. Aus diesem Grund widersetzen wir uns jenen Kräften, die die Sicherheit und Zusammenarbeit zwischen den Nationen der Welt sabotieren wollen ...
Im Alter von zehn Jahren, als ich – laut Schulchronik – diese Resolution mit Beifall beklatscht haben soll, hatte ich überhaupt