komplett auseinandergenommen wurde – zusammenbauen mußte man es hinterher selbst. Also hatten wir uns daran gewöhnt, einige der mitgeführten Handelsartikel einladend auf dem Armaturenbrett liegenzulassen. Am Ende der Kontrollen waren sie immer verschwunden.
Manchmal gab es heikle Situationen. Als wir eines Tages zur Reise aufbrachen, klebte hinter der Windschutzscheibe ein Farbporträt vom neuen Papst – aus patriotischem Wagemut hatte mein Vater es dort hingesteckt.
»Wer soll das sein?« schnauzte ein Zöllner und deutete auf die in Weiß gekleidete Figur, die segnend die Hand hob.
»Das?« Meinem Vater fiel jetzt plötzlich ein, daß die Zollbestimmungen die Einfuhr von religiösen Objekten in die Sowjetunion ausdrücklich untersagten. »Das ist einer unserer Generäle«, erwiderte er mit einem matten Lächeln.
»Ein General?« Der Grenzer starrte meinen Vater durchdringend an.
»Eigentlich ein Admiral. Er ist Kommandeur unserer Ostseeflotte«, sagte mein Vater, ohne eine Miene zu verziehen.
»Verstehe. Tolle Uniform!«
Die Strecke durch die Sowjetunion war von hohen Bäumen gesäumt – wahrscheinlich als Schutz gegen Schneestürme, obwohl alle munkelten, daß die Sowjets den Blick der Durchreisenden auf ihre brachliegenden Felder verstellen wollten. Wir durften nur der vorgeschriebenen Route folgen, die an jeder größeren Kreuzung von düsteren Wachtürmen aus Beton gesichert war. Wir bemerkten, daß die Wachmannschaften die Nummernschilder aller ausländischen Wagen registrierten. Die Straße zu verlassen, war nicht ratsam: Bald würde man von einer Streife gestoppt und in ärgerliche Dispute verwickelt werden.
Die Strecke führte uns durch die Stadt Lwów (Lemberg), die einst der östlichste Vorposten Österreich-Ungarns gewesen war und davor (bis 1772) sowie zwischen den Weltkriegen zu Polen gehört hatte. Die Geschichtslehrer in unserer Schule versuchten, die Annexion Lwóws durch die Sowjetunion im Jahre 1939 zu rechtfertigen: Der Osten Polens sei von jeher ein russischer Landstrich (von der Ukraine war erst gar nicht die Rede), in den jetzt die Sowjets nur einrückten, um die Bevölkerung vor den Deutschen zu schützen. Doch wie immer bei solchen Grenzstreitigkeiten in ethnisch vielfältigen Gegenden war auch dieser Fall äußerst kompliziert. Während die Landbevölkerung mehrheitlich aus Ukrainern bestand, wurde in Lwów selbst seit Jahrhunderten hauptsächlich Polnisch gesprochen. Jedes polnische Kind wußte, daß unser glückloser König Kasimir in der Kathedrale von Lwów geschworen hatte, das Schicksal der Bauern zu verbessern, nachdem sie ihm wieder zum Thron verholfen und die 1655 eingefallenen Schweden vertrieben hatten. Und auch jetzt, nach mehreren Jahrzehnten sowjetischer Verwaltung, machte die Stadt kaum einen russischen Eindruck. Die beiden Löwenstatuen, die in polnischen Liedern besungen werden, standen immer noch vor dem klassizistischen Rathaus. Der Rathausplatz stammte aus der Renaissance, ein angrenzendes Haus gehörte einst Johann III., der 1683 Wien von den Türken befreite. Der Markuslöwe bewachte den Eingang eines weiteren Hauses, in dem wahrscheinlich das venezianische Konsulat einmal untergebracht gewesen war, und zeugte von Lwóws herausragender Bedeutung und strategischer Position an einer der wichtigen Handelsstraßen nach Asien. Auf den Stufen des Denkmals zu Ehren des Dichters Adam Mickiewicz legten wir Blumen nieder. Damals fand ich es nicht weiter komisch, daß hier für einen Mann, der im heutigen Weißrußland geboren wurde und der Encyclopedia Judaica zufolge ein Jude war, der in Paris in polnischer Sprache sein bekanntestes Gedicht verfaßte, dessen Anfangszeile lautet: »Litauen, du meine Heimat, du bist wie die Gesundheit«, daß hier für diesen Mann ein Denkmal errichtet wurde, und zwar zu einem Zeitpunkt, als die heute ukrainische Stadt zu Österreich-Ungarn gehörte.
Wir schauten uns auch das Lenin-Standbild auf der gegenüberliegenden Seite desselben Platzes an. Es hieß, das Monument sei aus den Trümmern einer Marienstatue errichtet worden, und man könne noch erkennen, wie unter Lenins Mantel die Lilien auf dem Kleid der Jungfrau Maria hervorlugten. Ich habe angestrengt hingesehen, aber nichts davon entdecken können. (Jahre später, es war 1991, erlebte ich mit Genugtuung, daß Lenin vom Platz entfernt wurde, und die Mär bewahrheitete sich irgendwie doch, wenn auch auf unerwartete Weise. Es stellte sich heraus, daß für den Sockel des Standbilds Grabsteine vom jüdischen Friedhof verwendet worden waren.)
Überhaupt schienen viele Gebäude in Lwów der offiziellen Geschichtsschreibung zu widersprechen. So prangte an der Fassade des Jesuitenklosters ein großes Wappen der alten Union – mit dem polnischen Adler und dem litauischen Ritter. Unter dem bröckelnden Putz von Jugendstilwarenhäusern kamen polnische Namen zum Vorschein. An einem Haus in der Rosa-Luxemburg-Straße hing immer noch ein verrostetes Schild mit der Hausnummer und dem polnischen Straßennamen Kanonia. Wahrscheinlich waren die sowjetischen Arbeiter zu faul gewesen, es herunterzunehmen – es hing zu hoch, als daß man mit einer einfachen Leiter herangekommen wäre. Manche alte Männer, die uns Polnisch sprechen hörten, grüßten uns oder zerrten uns zwecks einer heimlichen Unterredung in einen Hauseingang. Sie gehörten zu den Leuten, die Polen nicht rechtzeitig vor den »ethnischen Säuberungen« der vierziger und fünfziger Jahre verlassen hatten. »Haben Sie polnische Briefmarken?« fragte mich einmal ein gekrümmter alter Mann mit weißem Haarschopf. Er schaute mich, einen pubertierenden Teenager, untertänig an. »Ich möchte nur etwas haben, was aus Polen kommt.« Das Wort »Polen« sprach er mit einer fast religiösen Ehrfurcht aus.
Die offiziellen Lügen waren im Falle Lwóws besonders kraß, da die Stadt, anders als weite Flächen Ostpolens, niemals zu Rußland gehört hat, nicht einmal während der polnischen Teilungen des 18. Jahrhunderts. Die Stadtmauern stammten aus dem Mittelalter, es gab Kirchen aus der Renaissance, dem Barock und dem Klassizismus sowie eine armenische Kathedrale mit einem Friedhof, wo armenische Adelige ruhten und die Gräber mit dem polnischen Wappen geschmückt waren. Eine prunkvolle unierte Basilika überragte auf einem Hügel die Stadt. Ein leerer Platz markierte die Stelle, wo einst die Synagoge stand. Lwów, seit dem Mittelalter eine Handelsstadt, war schon immer reich gewesen und hatte im 19. Jahrhundert noch einen kleinen Öl-boom erlebt. In der Stadt war ein amerikanisches Konsulat angesiedelt, ein vornehmes Hotel (das George, das einem Franzosen gehörte) und ein Opernhaus, das der Scala in verkleinertem Maßstab nachgebildet war. Die Straßen von Lwów hatten immer noch ein starkes bürgerliches Flair. Wenn ich die Augen schloß, sah ich noble Automobile über das Kopfsteinpflaster rollen, promenierende Damen in Pelzmantel und geschäftige Herren in Zylinder. Wenn ich die Augen wieder öffnete, sah ich die neuen sowjetischen Bewohner, die seltsam mit der Architektur der Stadt kontrastierten, keinen Sinn für ihre mondäne Vergangenheit zu haben schienen: Bäuerinnen mit Kopftüchern und groben Gesichtszügen, stämmige Männer, die billige Aktentaschen mit sich herumschleppten.
Lwóws gotische Kathedrale wurde von Kasimir dem Großen errichtet, demselben König, der auch meiner Heimatstadt Bydgoszcz das Stadtrecht verliehen hatte. In den Seitenschiffen der Kathedrale befanden sich Marmorgräber von polnischen Adeligen. Fresken und Gemälde erinnerten an Szenen aus der heroischen Stadtgeschichte: die Verteidigung gegen die Tataren, die Brandschatzung durch die Schweden. Doch trotz aller historischen Größe war die einst so bedeutende Kathedrale durch die Willkür der Sowjetbürokraten mit Schließung bedroht. Wir besuchten die Kathedrale jedesmal auf unserer Reise in den Süden, so auch 1979, nur Monate, nachdem Karol Wojtyła zum Papst gewählt worden war. Nach der Messe bahnte ich mir einen Weg zum Altar und zu einer Seitentür im Presbyterium, durch die man in die Sakristei kam. Jacek, der Sohn von Freunden meiner Eltern, die zusammen mit uns reisten, begleitete mich. Wir hatten ein Paket bei uns, dessen Inhalt ich meinen Eltern erst nach der Überquerung der sowjetischen Grenze verraten hatte, weil er uns Ärger hätte einbrocken können: Es handelte sich um mehrere Hundert Bilder vom neuen Papst. Sie bildeten einen Teil meiner Handelsware, und eigentlich hoffte ich, sie verkaufen zu können. Jetzt jedoch, in der Kathedrale, schien es mir richtiger, sie zu verschenken. Die Sakristei war mit dunklem Holz getäfelt. Eine alte Frau, die sich womöglich nicht nur an die polnischen, sondern auch an die österreichischungarischen Zeiten erinnern konnte, saß an einem großen Schreibtisch und machte Eintragungen in einem Hauptbuch. Sie schaute hoch, und ich übergab ihr das Paket.
»Ich habe sie aus Polen mitgebracht, weil ich dachte, daß sie hier vielleicht schwer zu bekommen sind. Ich hoffe, Sie können sie gut gebrauchen.«
Sie öffnete das Paket, breitete ein paar Bilder auf der Tischplatte